Die soziale Konstruktion gesellschaftlicher Eliten – ein erster Analyseversuch

Derzeit arbeite ich gerade an der Vorbereitung eines Projekts zur Frage, welche Vorstellungen sich die Gesellschaft von ihren „Eliten“ macht (und was das möglicherweise über jene Gesellschaft aussagt). Diese Vorstellungen unter die Lupe zu nehmen scheint mir dabei momentan wichtiger zu sein denn je: unter Bedingungen komplexer europäischer (und weltweiter) Krisenerscheinungen steigert sich die schon seit geraumer Zeit erkennbare Tendenz zur diskursiven Devaluation gesellschaftlicher Leitfiguren ins Extreme. Wie geschieht dies und warum ist das so? Um einen ersten Zugang zu solchen Fragen zu finden, habe ich in diesem Semester Studierende in zwei Seminaren – eines aus der Perspektive der Wissenssoziologie, eines aus der Perspektive der Elitenforschung – dazu angeleitet, sich mit Kommentaren auf den Facebook-Seiten wichtiger deutscher PolitikerInnen auseinanderzusetzen. Welcher Blick auf politische Eliten manifestiert sich hier? Exemplarisch haben wir uns dazu punktuell vier Seiten angesehen: diejenigen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, von Bundesjustizminister Heiko Maas, vom Fraktionschef der grünen Bundestagsfraktion Anton Hofreiter sowie von der nordrheinwestfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft. Die folgenden Überlegungen sollen dazu dienen, Ordnung in meine ersten Eindrücke von den in 12 Gruppen-Präsentationen vorgestellten gemeinsamen Analysen zu bringen. (Eine kleine Anmerkung sei mir noch erlaubt, bevor es losgeht: Für Grammatik- und Rechtschreibanomalien in den Materialausschnitten wird keinerlei Verantwortung übernommen…)

Zum Verhältnis von „Elite“ und Gesellschaft. Die erste Frage, die sich stellt, versucht man die gesellschaftliche Perspektive auf Eliten  zu rekonstruieren: Wie ist das Verhältnis von Gesellschaft und „Elite“ überhaupt zu denken? Nicht die klassischen Elitentheorien – von Vilfredo Pareto über Robert Michels bis Gaetano Mosca – liefern hier unmittelbare Anschlussmöglichkeiten, Felix Haas, A.F. und Verena Nitsche setzen in ihrer Präsentation bei Karl Marx und Friedrich Engels an. In „Die deutsche Ideologie“ setzen sich Marx und Engels mit dem Status gesellschaftlichen Wissens auseinander, dessen Geltung sie der bekannten fundamentalen Einschränkung unterziehen: Jegliche Vorstellungen von Wahrheit sind abhängig von den gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen – „die Gedanken der herrschenden Klasse sind die herrschenden Gedanken“ (Marx/Engels 1932, S. 35). Aus dieser Annahme ideologischer Stützung der herrschenden Klasse lässt sich umgekehrt auf die Stellung der Angehörigen der herrschenden Klassen in dieser  Ideologie schließen: sie muss das Bild positiver Unantastbarkeit derselben transportieren, sie muss deren Eigenschaften und Fähigkeiten als herausragend und für die unteren Klassen unerreichbar begreiflich machen – die für alle sichtbaren Unterschiede zwischen Angehörigen der unteren und der oberen Klassen müssen als natürliche, unhintergehbare Unterschiede zwischen verschiedenen Kategorien von Menschen zementiert werden (vgl. Saake 2016). Für die gegenwärtige Gesellschaft trifft diese Annahme zum Verhältnis zwischen Gesellschaft und „Elite“ jedoch nicht mehr zu – zumindest, wenn man der noch jungen (und sehr spannenden) Gesellschaftsdiagnose von Irmhild Saake folgt, was ich an dieser Stelle versuchsweise tun möchte. Saake attestiert der heutigen Gesellschaft fundamentale Intoleranz jeglichen gesellschaftlichen Asymmetrien gegenüber (Saake 2016): „jetzt, wo wir eigentlich alle gleich sind, werden Ungleichheiten zu einem Skandal und damit auch zu einem zentralen Thema der modernen Gesellschaft“ (Saake 2016). Die herrschende gesellschaftliche Ideologie, versucht man es nochmals in der Marx/Engels’schen Terminologie zu formulieren, zementiert also gerade nicht bestehende Ungleichheiten, sie transportiert die Prämisse der grundsätzlichen allumfassenden Gleichheit. Die daraus sich ergebende Asymmetrie-Intoleranz erstreckt sich folglich auch auf wahrgenommene Ungleichheiten zwischen den InhaberInnen führender politischer Positionen und der durch sie regierten Bevölkerungsmehrheit: Auch PolitikerInnen und BürgerInnen sind als grundsätzlich gleich zu verstehen, also werden Ungleichheiten zwischen ihnen erklärungsbedürftig und kritikfähig. Interessiert man sich vor diesem Hintergrund für den gesellschaftlichen Blick auf führende PolitikerInnen, so ist zu erwarten, dass wahrgenommene Asymmetrien entlarvt und Versuchen der Reasymmetrierung unterzogen werden. Der als symmetrisch vorgestellte Urzustand soll wiederhergestellt werden.

Stattdessen: Extreme Asymmetrisierung der sozialen Kategorie PolitikerIn. Der Blick auf die Facebook-Kommentare zeigt, dass dies interessanterweise zunächst einmal gerade nicht zu beobachten ist: der Versuch nämlich, die PolitikerInnen gleich zu machen. Vielmehr erscheint „der Politiker“ (bzw. die „sch… politiker!!“; Maas Z701, bzw. die „Politikerkaste“; Maas Z676), so beschreiben das C.K., K.D., A.S. und Lisa-Marie Fuchs in ihrer Präsentation, als eine soziale Kategorie, die mit derart spezifischen Eigenschaften verknüpft wird, dass sie sich letztlich zu einem eigenen Menschenbild verdichten lassen. Demnach erscheint der politische Mensch zum ersten notwendig als Machtmensch (bzw. als „machtgieriger Mensch“; Kraft Z323), der alles unternimmt, was für ihn „nützlich ist, [seine] Macht zu behalten“ (Kraft Z357). Zum zweiten ist er der genuin narzisstische Mensch, der in seiner extremen Selbstbezogenheit alle anderen außer sich selbst missachtet: „im Grunde genommen freuen Sie sich doch auch nur auf die fette Pension die Ihnen nach Ihrer Bundestags-Zeit zusteht, gelle?“ (Hofreiter Z1888) Damit liegt es nahe, Politiker zugleich für demokratisch nicht befähigte Menschen zu halten: „Die meisten Politiker haben trotz der schlechten Ergebnisse gegen die Demokratie ! immer noch nur ihre eingenen politischen Ziele im Blick“ (Kraft Z329). Immer wieder gehen diese Stereotypisierung auch so weit, dass sogar eine inhärente Disposition zum Bösen – „an ihren Händen klebt Blut!“ (Merkel Z1104) – vermutet wird: „Ihr Politiker seid so verlogen und hinterhältig“ (Hofreiter Z1888), „Vielen Dank, dass Sie uns immer so schön belügen, verraten und mit Füßen treten, das eigene Volk missachten und ausbluten lassen“ (Merkel Z79). Wo aus dem politischen Mensch der an sich böse Mensch wird, ist der Übergang von der Stereotypisierung zur Stigmatisierung nicht mehr zu übersehen. An dieser Stelle fällt schnell auf: Letztlich passiert hier genau das, was Saake für das ständisch strukturierte Mittelalter rekonstruiert, in der gegenwärtigen Gesellschaft jedoch für obsolet hält – nämlich die Naturalisierung der Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe als die a priori völlig Anderen, als ganz eigener, inkommensurabler Typus Mensch. Der Unterschied zu naturalisierenden Zuschreibungen früherer Zeiten liegt dann „lediglich“ in der Richtung derselben: Anstatt in Ehrfurcht vor den vermeintlich naturgegeben herausragenden Eigenschaften und Fähigkeiten der Mächtigen zu erstarren, lässt man sich nun hemmungslos über deren Schlechtigkeit aus. Die prinzipielle Form der Orientierung an den „Eliten“ wird also beibehalten, ihrer Richtung nach aber verkehrt.

Zugleich kann man nach dieser Betrachtung jedoch auch stutzig werden: Handelt es sich überhaupt noch um ein Menschenbild, das hier transportiert wird? Mitunter bekommt man bei der Analyse nämlich den Eindruck, dass man es vielmehr mit einem Vorgang der diskursiven Entmenschlichung zu tun hat, wie dies auch B.S., C.H., Kathrin Roth und Leni Striegel  vermuten. Diese These wird, so scheint mir, insbesondere von drei in den Kommentaren erkennbaren Tendenzen gestützt: Erstens wird immer wieder die extrem vereinseitigende Deutung der Lebensäußerungen und Handlungsmotive der PolitikerInnen erkennbar. Dies deutet sich etwa in den obigen Zitaten an, in denen PolitikerInnen die ausschließliche Orientierung am eigenen Wohl und Nutzen unterstellt wird – Unsicherheit, Uneindeutigkeit, Komplexität und Vielfältigkeit kommt in diesem Verbalisierungen nicht vor. Zweitens, und die erste Tendenz spezifizierend, wird PolitikerInnen insbesondere radikale Gefühllosigkeit bzw. Gefühlsferne unterstellt – in einem Ausmaß, dass die punktuelle Sichtbarkeit glaubhafter Gefühlsregungen als das in keiner Weise Erwartbare, das absolut Überraschende erscheint: Also mal was gänzlich unpolitisches… wie Frau dreyer sich gefreut hat, war einfach zum mitfreuen. Echte Gefühle bei Politikern… wow!“ (Kraft Z731) Drittens schließlich lässt sich die Tendenz der Entmenschlichung an der Art und Weise erkennen, wie die Verkettungen politischer Handlungszusammenhänge beschrieben werden: „sie liebe frau merkel knicken 1 tag davor ein und sprechen wieder alles kunterbunt bis nach den wahlen so wie immer und halten sich zum ende eh nicht dran“ (Merkel Z2042). Diese erscheinen als mechanisch, will heißen: als in ihrem Ablauf  vorherbestimmt, von einfachen Ursache-Wirkungszusammenhängen geleitet, unfähig zur Anpassung im Prozess, außengesteuert. In letzter Konsequenz werden PolitikerInnen sogar zu Puppen, zu Marionetten in Verschwörungstheorien, die etwa vermuten, diese oder jene Politiker seien „wieder mal abgetaucht und warten auf Anweisungen von Soros und Co und der ESI wie sie weiterhin unser Volk aufs Kreuz legen müssen“ (Merkel Z129). Diese Formen der Kategorisierung, Stigmatisierung und Entmenschlichung von PolitikerInnen scheint gesellschaftlich so selbstevident und unmittelbar anschlussfähig zu sein, dass sie gar nicht weiter erklärungsbedürftig sind. „Politikerbashing“ wirkt so geradezu selbst als gesellschaftliche Norm. Vielleicht am deutlichsten wird daher das Ausmaß dieser Entmenschlichung in den wenigen Kommentaren erkennbar, die sich der dominanten Deutungsweise des Politikerhandelns entgegenstellen. Zum Beispiel mit den Worten: „Frau Merkel ist genauso ein mensch mit Fehlern wie jeder andere Mensch auch!!! Habt ihr noch nie Fehler gemacht????“ (Merkel Z1334) Oder mit dem Hinweis: „Unser Kanzlerin ist ein ganz normaler Mensch der das Recht hat jedem Frohe Ostern zu wünschen wie jeder andere Bürger“ (Merkel Z1588).

Oder doch Symmetrisierung? Über Versuche, in Facebook-Kommentaren Machtasymmetrien zu nivellieren. Möglicherweise liegt aber genau dieser Stigmatisierung, dieser Entmenschlichung, der ausgesprochenen Asymmetrisierung des politischen Menschen der Versuch zugrunde, die gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem aber die eigene Stellung in der Gesellschaft, zu resymmetrisieren. Die wahrgenommene eigene Machtlosigkeit wird relativiert dadurch, dass die wahrgenommene Machtfülle der PolitikerInnen gerade nicht als auf persönlicher Überlegenheit beruhend interpretiert wird. In Machtpositionen, so jene Interpretation, gelangen nur diejenigen, denen bestimmte, nämlich positiv gedeutete menschliche Anlagen fehlen – sie sind also vielleicht die mächtigeren, so könnte man den zugrundeliegenden Gedankengang verkürzt zusammenfassen, dafür aber die schlechteren (bzw. gar keine richtigen) Menschen. Eine eigentümliche Form von Gleichgewicht ist auf diese Weise wiederhergestellt. Nicht zuletzt ermöglicht im Übrigen diese Perspektive die Selbstlegitimation der eigenen Art der Kommunikation in diesen Facebook-Kommentaren: Beschimpfungen, Beleidigungen, ausfallende und unflätige Bemerkungen lassen sich rechtfertigen, kann man davon ausgehen, das Gegenüber hätte es – aufgrund seiner minderwertigen Qualität – nicht anders verdient bzw. habe durch die Selbstselektion auf die Position des Politikers bereits hinreichend bewiesen, dass alles Persönliche, jede menschliche Regung sowieso völlig wirkungslos an der kalten, unmenschlichen äußeren Hülle abgleitet.

Es scheint also um ein Ungerechtigkeitsempfinden Machtasymmetrien gegenüber zu gehen, was sich gut an der Art und Weise erkennen lässt, wie in den Kommentaren Urteile über PolitikerInnen gefällt werden. Mit dieser Frage haben sich Marie Dyckers, Lena Geiger, Adonis Khaghani und Rebecca Sawicki beschäftigt, die – ausgehend von formalen Theorien der Argumentation (Lumer 1990) – feststellen, dass die Urteilsformulierung auf Facebook im Allgemeinen in keiner Weise jenen Kriterien entspricht, die man an ein fundiertes Urteil anlegen würde. Insbesondere auffällig ist das notorische Fehlen von Argumenten überhaupt, das Urteilen qua Behauptung, das die Mehrheit der Beiträge auf den PolitikerInnenseiten auszeichnet. Das allein ist nun möglicherweise noch nicht überraschend – Facebook steht sicherlich nicht unbedingt im Ruf, Ort der Verwirklichung des herrschaftsfreien Diskurses zu sein. Interessant ist aber, dass viele dort geäußerte Urteile dennoch nicht ohne eine Form der Legitimation auszukommen scheinen. Mithin das gängigste Urteil betrifft dabei die Kompetenz von PolitikerInnen, die (erneut mit stereotyper Regelmäßigkeit, siehe C.K., K.D., A.S., Lisa-Marie Fuchs) in Abrede gestellt wird. Um nur einige Beispiele anzubringen: Da ist von der „Dummheit vieler Politiker“ (Maas Z660) die Rede und davon, dass es „Das Beste wäre, wenn die Regierung abdankt und endlich FÄHIGE leute an die Macht lässt“ (Maas Z643). In Abwesenheit von Argumenten wird das eigene Urteil vor allem durch relative Erhöhung der eigenen Urteilsposition gestützt. Die sicherlich krudeste Methode ist dabei das Lächerlichmachen der jeweils in Augenschein genommenen PolitikerInnen, deren Standpunkte damit als nicht ernstzunehmend ausgewiesen werden. Insbesondere die Verunglimpfung des Namens scheint dabei als wirkungsvoll erachtet zu werden: „Rechtlich äusserst relevant, aber Maasmännlein muss ja gegen rechts vorgehen…“ (Maas Z130). „Frau Ferkel, Sie sind eine Schande für die Deutsche Bundesrepublik!“ (Merkel Z378). Eine weitere, sehr bekannte und weit voraussetzungsvollere Möglichkeit der Anhebung der eigenen Urteilsposition findet sich im Anspruch, für das eigene Volk zu sprechen, so dass die Einschätzung Sie handeln schon lange nicht mehr im Sinne ihres Volkes“ (Merkel Z30) nicht weiter erklärungsbedürftig ist. Gegenüber dem Volk sind die politischen RepräsentantInnen, denkt man klassisch demokratietheoretisch, lediglich Ausführungsagenten – entsprechend dieser Logik befinden sich die beurteilten PolitikerInnen also gegenüber den KommentatorInnen in einer untergeordneten Position. Eine daneben immer wieder auftauchende Möglichkeit der Erhöhung der eigenen Urteilsposition besteht schließlich darin, die PolitikerInnen in die Position von Kindern zurückzuversetzen, was beispielsweise durch die Zuschreibung von Naivität gelingen kann: „Macht euch aber bitte nix draus, in der Groko ist man ebenso kindlich-naiv“ (Hofreiter Z1024). Oder: „Wie naiv sind sie denn der macht nicht was sie wollen das ist ein Moslem der macht keine Gesxchäfte mit Frauen“ (Merkel Z678). Dies erklärt möglicherweise auch die immer wiederkehrende Aufforderung an die jeweiligen PolitikerInnen, sich doch bitte zu „schämen“ (z.B. Maas Z26). Aus dieser Position heraus fällt dann das Urteilen leicht – zum Beispiel im Stile eines Lehrers, der richtig und falsch eindeutig unterscheiden und zu dem vernichtenden Schluss kommen kann: „Fakt: Energiepolitik ist absolut gescheitert! Setzen 6!“ (Hofreiter Z680) Indem man sich also im eigenen Urteil den PolitikerInnen überlegen fühlt, ist die Machtasymmetrie zumindest diskursiv wirkungsvoll nivelliert.

Absolute Wahrheit – die Basis der Symmetrisierung. Die Form, in der in vielen Kommentaren Urteile über PolitikerInnen bzw. deren Handeln sichtbar werden, verweist schließlich auf das Weltverhältnis der KommentatorInnen. Dabei wird deutlich, dass auch das tendenziell deterministische Menschenbild, das wie oben dargestellt in den Kommentaren häufig zum Ausdruck kommt, kein Zufall ist: Wie aus der Präsentation von M.H., J.M. und H.H. hervorgeht, steht hinter den Äußerungen häufig ein sehr klassischer Begriff von Wahrheit, wie er sich etwa auf Platon zurückführen lässt. Er tritt in den teils wütend, teils verzweifelt, teils resigniert, teils herausfordend anmutenden Anrufungen von Wahrheit an die Oberfläche: „Wo ist denn die Wahrheit?“ (Merkel Z1120), „niemand interessiert die Wahrheit“ (Merkel Z55), „oder habt ihr schiss die Wahrheit zu hören“ (Kraft 1569). Er macht sich im Appell bemerkbar, Begriffe doch ihrer „richtigen“ Bedeutung nach zu verwenden: „Kernkraftwerke sind keine Atombomben, Migranten sind keine Flüchtlinge, Rationalisten sind keine Nationalisten, Bürger die eine unkontrollierte Zuwanderung ablehnen sind keine “Fremdenfeinde”, und und und …………………………………………………..… Liebe Grüne, die deutsche Sprache ist so differenziert und klar. Bitte versucht doch einmal die richtigen Begriffe zu verwenden, wenn ihr versucht euch auszudrücken !!!!!!!“ (Hofreiter Z56) Er tritt in Erscheinung überall dort, wo die Vermutung transportiert wird, Experten – als diejenigen, die sich im Besitz der tatsächlichen Wahrheit mit Bezug auf einen gesellschaftlichen Teilbereich befinden – wären die besseren PolitikerInnen: „Die Verteidigungsstrategie des Landes sollte von Experten geplant werden, nicht von Ihnen. Sind Sie Experte? !!!“ (Hofreiter Z130) Und er wird dort deutlich, wo gegebene politische Aussagen eindeutig als Lügen, alles Lügen und Erfindungen der Schuldigen und Medien“ (Maas Z870) gekennzeichnet werden – PolitikerInnen werden damit zu „Realitätsverweigerern“ (Maas Z1128) (oder Schlimmerem). Es ist dies damit ein Begriff, der Wahrheit als eine a priori und objektiv feststehende, eindeutige und in sich vollständige, den empirisch ablaufenden Prozessen zugrundeliegende Wesenheit begreift, die – und hier allerdings im Unterschied zu Platon – für alle Willigen unmittelbar einsichtig ist. So erklärt sich vielleicht auch der auffällige Verzicht auf Argumente: Wenn die Wahrheit für diejenigen, die sich bloß die Mühe machen, sie zu erkennen, unmittelbar einsichtig ist: wozu müsste man sie dann selbst erst erklären? Oder aber, und das wäre eine alternative Deutung für den Argumentverzicht: das Anführen einzelner Argumente in seiner punktuellen Selektivität hat gerade nicht den gewünschten Effekt dem eigenen Wahrheitsanspruch die notwendige Legitimation zu verleihen – einzelne Argumente lassen sich schließlich immer widerlegen. Anstelle von Argumenten nutzen die KommentatorInnen daher viel stärker andere Techniken, um ihren Wahrheitsanspruch zu untermauern. M.H., J.M. und H.H machen hier auf einige interessante Möglichkeiten aufmerksam, darunter – neben der oben bereits erwähnten Technik der Inanspruchnahme des Volkswillens – zunächst einmal den naheliegenden Verweis auf gesellschaftliche Autoritäten, deren Legitimität auf den eigenen Standpunkt abfärben soll. Besonders häufig lässt sich der Bezug auf wissenschaftliche oder juristische Autorität erkennen, wie etwa im Hinweis, „Das  Gesetzt steht über Religion“ (Kraft Z382), oder der Feststellung, „weil Ihr vor lauter Sozialromantik, alle wissenschaftlichen empirischen Werte und Analystenwarnungen beiseite geschoben habt“ (Hofreiter Z1169). Legitimation wird aber nicht nur durch den Bezug auf (wissenschaftliche bzw. juristische) Personen oder Institutionen evoziert, sondern auch durch die Simulation entsprechender (wissenschaftlicher bzw. juristischer) Methodik – vor allem ist damit der selektive Bezug auf Quellen angesprochen: „Zumal ein Präsidentschaftskandidat in den USA den Gebrauch von Atomwaffen in Europa nicht ausschliessen will.. http://www.motherjones.com/mojo/2016/03/donald-trump-nuclear-weapons-europe“ (Hofreiter Z123). Ebenfalls eine große Rolle spielt darüber hinaus die Quantifizierung, bzw. die Legitimation qua Assoziation mit mathematischer Wahrheit: „Das politische Wenige, was Regierungskoalition in NW bislang gezeigt hat, scheinen Sie Frau Kraft potenzieren zu wollen. Null hoch Null ergibt bekanntlich immer noch Null. Daher  ist  auch nicht unwahrscheinlich, dass das Land noch für eine geraume Zeit Schlusslicht auf einigen politischen Sektoren bleibt“ (Kraft Z17). Wie auch immer der Wahrheitsanspruch zu untermauern versucht wird, immer wieder wird deutlich, dass Wahrheit nicht nur als absolut, eindeutig und objektiv, sondern nicht selten auch als unaufhaltbare Macht verstanden wird, die sich letztlich durchsetzen wird: „Nach Jahren kommt die Wahrheit immer heraus“ (Kraft Z398). Vor dem Hintergrund der Vorstellung von eindeutigen Wahrheiten, an denen PolitikerInnen bewusst und systematisch vorbeiführen, lässt sich in letzter Konsequenz auch auf eine Form des Jüngsten Gerichts hoffen: Ich hoffe sie bekommt die gerechte Strafe dafür“ (Merkel Z2040).

Symmetrie der politischen Kommunikation: Politik bleibt Politik, auch in Facebook-Kommentaren. Und damit möchte ich abschließend nochmals auf Saakes Analyse moderner Asymmetrie-Intoleranz zurückkommen. Dieser Analyse lässt sich die Vermutung entnehmen, der Gleichheitsimperativ sei Konsequenz der Erfahrungen, die den Einzelnen in einer funktional differenzierten Gesellschaft eingeschrieben werden. Erfahrungen nämlich, welche die implizite, individuelle Verankerung von Kontingenzbewusstsein verschiedenen Weltzugängen gegenüber bewirken – illustriert etwa am Beispiel von Saakes Studierenden, die am liebsten allen in Diskussionen eingebrachten Argumenten Artenschutz gewähren würden (Saake 2016). In den Facebook-Kommentaren aber ergibt sich der Gleichheitsanspruch gerade nicht aus einem Kontingenzbewusstsein heraus, sondern im Gegenteil aus der Prämisse, dass die eine, die absolute Wahrheit für alle gleichermaßen gültig ist. Aber genau dort, wo sich die KommentatorInnen mit verschiedenen Techniken darum bemühen, ihrer eigenen Sichtweise auf die Welt Legitimität zu verleihen, wo sie ausgearbeitete Metaphern heranziehen, um dieser Sichtweise mit Evidenz zu versehen –  „Wie Äpfel hängen die Bürger am großen Apfelbaum und wissen nicht, dass Merkel dessen Wurzeln abgeschnitten hat. Die dicken roten sind ausgewachsen und benötigen den Saft nicht mehr. Ihnen ist das ‘egal’. Die kleinen werden dagegen nicht weiter zunehmen. Und alle werden in Kürze schrumpeln, herabfallen und verfaulen. Und es wird nichts mehr nachwachsen, niemals mehr“ (Merkel Z569) –, dort wird deutlich: Die KommentatorInnen machen genau das, was sie an den PolitikerInnen kritisieren, sie betreiben Aussagearbeit, um die eigene, kontingente Sichtweise auf die Welt zu geltenden Sichtweise auf die Welt zu machen (Bourdieu 2010). Mit anderen Worten: Sie treiben Politik.

Literatur

Bourdieu, P. (2010): Politik. Schriften zur politischen Ökonomie 2. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Lumer, Christoph (1990): Praktische Argumentationstheorie: theoretische Grundlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentationsarten. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg.

Marx, Karl; Engels, Friedrich (1932): Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten, Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten 1845-1846. Wien/Berlin: Verlag für Literatur und Politik.

Saake, Irmhild (2016): Zum Umgang mit Unterschieden und Asymmetrien. Aus Politik und Zeitgeschichte 9.

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