Heute mal ein kleiner Versuch über Rationalität

Am Anfang noch zentraler begrifflicher Bezugspunkt der Fachentwicklung, ist Rationalität der Soziologie mittlerweile zu einem weitgehend sinisteren Konzept geworden (vgl. Anicker 2022: 124). Zu sehr scheint die Geschichte dieses Konzepts mit seinem Missbrauch verknüpft: Allzu leicht lässt es sich offenbar für eine Reifizierung bzw. Essentialisierung eigener Vorstellungen von der Welt als vermeintlich rationaler (und damit besserer) Vorstellungen in Anspruch nehmen. Einen systematischen soziologischen Ort hat das Konzept allenfalls in Form des substantivierten Prozessbegriffs der Rationalisierung, der – enggeführt als Bezeichnung der gesellschaftlichen Tendenz zunehmender Zweck-Mittel-Orientierung – bloß noch eine Karikatur der seit der Aufklärung mit Rationalität verbundenen Befreiungs- und Fortschrittshoffnungen aufruft.

Mit der Kritischen Theorie davon ausgehend, dass Theorie sich an der Praxis entwickeln muss, unter deren Bedingungen sie steht, scheint es mir in der Gegenwart einen neuerlichen Bedarf zu geben, das Konzept der Rationalität aus der soziologischen Schmuddelecke zu holen. Anlass dafür ist die gesellschaftliche Debatte um die Stellung von Wahrheit in Post-Truth-Diskursen und im Rahmen postfaktischer Politik. Versuche, spezifische Phänomene des offensiven Gebrauchs faktischer Falschbehauptungen zu erklären, scheinen mir nämlich systematisch zwei Beschränkungen aufzuweisen: Zum einen wird das Problem hauptsächlich auf der Ebene des gesellschaftlichen Zeitgeists verortet – eine solche Betrachtungsweise invisibilisiert allerdings die durchaus existenten differentiellen gesellschaftlichen Praktiken des Umgangs mit Faktizität (dass es also durchaus und verstärkt Versuche gibt, etwa im Rahmen von „Faktenchecks“, den Dingen sehr genau auf den Grund zu gehen). Zum anderen stellen solche Versuche häufig einen stark moralistisch aufgeladenen, mitunter überhöhten Begriff von Wahrheit in den Mittelpunkt, der sich für die konkrete Analyse der praktischen Missachtung von Faktizität nur schlecht eignet. In dieser Situation schlage ich vor, das analytische Potential eines spezifisch gefassten Rationalitätsbegriffs auszuloten.

Ansetzen lässt sich dabei bei der einzigen aktuellen Sozialtheorie, die nach wie vor an zentraler Stelle mit dem Begriff der Rationalität arbeitet, nämlich Habermas‘ Theorie kommunikativen Handelns. Habermas bestimmt Rationalität als Vermögen, sprachlich transportierte Geltungsansprüche im Mittel der Gründe, also argumentativ, zu verteidigen bzw. zu kritisieren und so Verständigung zu erwirken. Es handelt sich also um eine Definition, die Rationalität allein in der Sprache verankert und so ein „substantielle[s] zugunsten eines prozeduralen Vernunftkonzepts“ aufgibt (Gripp 1984: 12): Rational ist, was sich im Raum der Gründe zu bewähren weiß.

Dieses Rationalitätsverständnis hat allerdings von verschiedenen Richtungen deutliche Kritik erfahren. An dieser Stelle interessieren dabei weniger Vorwürfe von Idealismus und Kognitivismus, die davon ausgehen, dass ein solches Rationalitätskonzept menschliche Praxis zu stark determiniert und daher neuerlich dafür plädieren, es überhaupt zu verwerfen. Stattdessen werden hier solche Vorwürfe relevant, die darauf beharren, dass ein derart gefasster Rationalitätsbegriff zu schwach ist, um analytisch fruchtbar werden zu können. So etwa Helga Gripp, die dem prozeduralen Vernunftbegriff insbesondere Inhaltslosigkeit vorwirft: „Indem [Habermas] diese Vernünftigkeit aber nicht mehr inhaltlich bestimmt, fehlt ihm in meinem Verständnis realiter ein Kriterium zur kritischen Beurteilung der Gesellschaft“ (ebd.: 147). Mir erschließt sich diese Kritik besonders vor dem Hintergrund der Post-Truth-Debatte: Gemessen an der Kapazität zur Mobilisierung von Gründen und der darauf gestützten (zumindest selektiven) Verständigung lässt sich eine solche Praxis, die postfaktisch operiert, nicht von einer faktisch-orientierten, rationalen Praxis unterscheiden. Am eindrucksvollsten zeigt sich dies am Beispiel von verschwörungstheoretischer Kommunikation, begriffen als Extremform postfaktischer Kommunikation. Um verschwörungstheoretische Kommunikation als irrationale Kommunikation in Erscheinung treten zu lassen, die von falschen Annahmen über die Wirklichkeit ausgeht, braucht es einen Rationalitätsbegriff, der einen derartigen „Wirklichkeitsverlust“ (Arendt) auch tatsächlich anzuzeigen in der Lage ist.  

Aber es ist nicht so, dass es bei Habermas dafür keinerlei Ansatzpunkt gibt. Denn indem er die Geltungsansprüche an drei distinkte „Welten“ – die „objektive Welt“, die „soziale Welt“ und die „subjektive Innenwelt“ – zurückbindet, erhält er zumindest mittelbar die Möglichkeit der Bezugnahme auf Außersprachliches aufrecht. Mehr noch: Habermas kritisiert sogar ganz explizit solche kommunikationstheoretischen Ansätze, die das, was man vielleicht konstruktivistische Sensibilitäten – also die Vorbehalte gegen jede Anspielung auf eine jenseits menschlicher Praxis liegende Realität – aus seiner Sicht zu weit treiben (vgl. Anicker 2022: 143): Bei aller Unmöglichkeit, die Welt als „Ding an sich“ denkend erreichen zu können, müssten Theorien aber doch in der Lage sein, die Widerständigkeit der objektiven Welt in Rechnung zu stellen. (Also etwa: Dass es gar nicht so leicht ist, zu behaupten, es habe einem das größte Publikum aller Zeiten gegenübergestanden, wenn es doch sehr viele Beweise dafür gibt, dass das schlicht und einfach faktisch falsch ist. Oder, als einfacheres Beispiel: Dass man nass wird, befindet man sich bei Regen im Freien.) In diesem Sinne ist es – zu dieser einfachen Behauptung würde ich gerne zurückkehren – letztlich insbesondere das, was Habermas den Bezug auf die objektive Welt nennt, welche als (rationalisierendes) Korrektiv kommunikativer Praxis wirkt.

Diesen Punkt ernst zu nehmen halte ich insbesondere in einer Zeit für bedeutsam, in der ein praktischer ebenso wie denkender Umgang mit Bedrohungen durch kommunikativen Wirklichkeitsverlust gefunden werden muss. Daher erscheint es mir hilfreich, Rationalität in einem engen Sinne explizit als Wirklichkeitssinn zu bestimmen. „Wirklichkeitssinn“ würde dabei das Vermögen heißen, die eigenen Vorstellungen zugleich in faktischen Zusammenhängen in der Welt zu verankern und von der Widerständigkeit solcher Faktizität irritieren zu lassen. „Faktisch“ sollen Zusammenhänge heißen, insofern sie einer gemeinsamen Konvention angebbarer und messbarer Rahmendaten (was, wann, wer, wo, mit wem?) entsprechend eindeutig bestimmt werden können. (Ein Beispiel für derart Faktisches liefert etwa die Frage, wie viele Menschen an einer bestimmten Veranstaltung teilgenommen haben, und welche Gravitationskraft dabei auf sie gewirkt hat.) Rationalität in diesem Verständnis bezeichnet nur ein bestimmtes menschliches Vermögen unter vielen, es ist nicht im Sinne der distinktiven Überhöhung einer Fähigkeit zu verstehen, die „den Menschen“ eindeutig über „das Tier“ hinaushebt. Vielleicht müsste man sogar eher umgekehrt formulieren: Rationalität ist dasjenige Vermögen, das den Menschen trotz seiner Fähigkeit zur Imagination an die mit anderen Lebewesen geteilte Wirklichkeit bindet (und ihn als instinktarmes Wesen dadurch wohl nicht zuletzt überlebensfähig macht).

Wenn man Rationalität derart, anders als Habermas, nicht primär sprachtheoretisch fundiert, sondern wieder explizit in einem weltlichen Bezug denkt, stellt sich nun – auch im Zusammenhang mit der Post-Truth-Debatte – die Frage: Wie äußert sich ein so verstandener Wirklichkeitssinn kommunikativ? Auch dafür deuten sich Antworten bei Habermas an, insofern er darauf verweist, dass die unterschiedlichen Weltbezüge jeweils unterschiedliche Arten von Gründen erfordern. Dieser Aspekt spielt zwar bei Habermas keine zentrale Rolle, weil für ihn ja vor allem das Hantieren mit Gründen als solches zentral wird (und vielleicht auch, weil die mit der objektiven Welt korrespondierende Art von Gründen naheliegenderweise den Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis nahestehen). Dennoch lässt sich formulieren, worauf es seiner Sicht nach ankommt: „Wahrheitsansprüche werden dabei unter Gesichtspunkten interner Widerspruchsfreiheit von Behauptungen, Berichten etc., ihrer Vereinbarkeit mit anderen, bereits als wahr akzeptierten Annahmen theoretischer Art und auf ihre Übereinstimmung mit empirischen Daten geprüft“ (Schneider 2002: 199). Demnach wären also Logik, Sachkenntnis und Empirie zentrale Werkzeuge, um den kommunikativen Bezug zur Wirklichkeit abzusichern.[1]  

Soweit mal ein erster Versuch für eine Überlegung in die Richtung, den Rationalitätsbegriff für die Analyse der Post-Truth-Situation fruchtbar zu machen. Vielleicht sollte ich betonen, dass die Idee der Bestimmung von Rationalität als Wirklichkeitssinn nicht dem Willen entspringt, ihn als neue/alte Allzweckwaffe zur Disqualifikation unliebsamer Perspektiven auf die Welt zu rehabilitieren. Und betonen muss man vielleicht ebenso, dass es beim Beharren auf Faktizität als Aspekt von Wirklichkeit nicht darum geht, auf großen, überzeitlichen Wahrheiten beharren zu wollen. So, wie ich sie mir denke, ist Rationalität demgegenüber ein sehr spezifischer Begriff, der nur über einen kleinen Teilaspekt menschlicher Praxis etwas aussagt – ein dünner Rationalitätsbegriff also, der ein Vermögen unter vielen bezeichnet. Aber die Frage nach dem Umgang mit Faktizität ist eben doch ein ubiquitärer Teil unserer Praxis, dem wir nicht entgehen können (wir können eben wirklich nicht auf die Straße und vor ein Auto laufen, ohne dabei in aller Regel verletzt zu werden). Im Gegensatz zu der immer wieder implizit transportierten Annahme, dass diese Form simpler Faktizität ja sozusagen „ohnehin klar“ und damit keiner theoretischen Anstrengungen wert sei (vgl. Dyk 2017), machen Post-Truth-Debatten bewusst: Genau diese vermeintlich selbstverständliche Faktizität müssen wir viel stärker als bisher in ihrer Rolle für das soziale (und politische) Leben heute begreifen.

Anicker, Fabian (2022): Ein Schimmer von Fortschritt: Die Soziogenese menschlicher Rationalität von Mead über Habermas zu Brandom. Österreichische Zeitschrift für Soziologie 46 (1), S. 123-150.

Dyk, Silke van (2017): Krise der Faktizität? Prokla 47 (188): S. 347-368.

Gripp, Helga (1984): Und es gibt sie doch – zur kommunikationstheoretischen Begründung von Vernunft bei Jürgen Habermas. Paderborn: Ferdinand Schöningh.  

Schneider, Wolfgang Ludwig (2002): Grundlagen der soziologischen Theorie. Band 2: Garfinkel – RC – Habermas – Luhmann. Wiesbaden: VS Verlag.


[1] Kleiner Kommentar: Es ist interessant, wie stark sich etwa Verschwörungstheorien in diesem Sinne den Anschein von Rationalität geben – die Erzeugung von logisch zwingend erscheinenden Ketten, von Bezugnahmen auf vermeintliche Autoritäten, von Beharren auf selektiv herausgegriffene Fakten…

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