Die Demokratie der Soziologie

erschienen in Soziologie 54 (4), S. 413-118

Die Soziologie hat ein Demokratieproblem: Zunehmend autoritäre Tendenzen machen die gesellschaftliche Bedeutung demokratischer Ordnung deutlich, doch der Disziplin fehlen die theoretischen Mittel, um diese Bedeutung adäquat zu erfassen. Die gesellschaftstheoretische Sprachlosigkeit der Soziologie gegenüber der Demokratie führt auch, so die zentrale These dieses Essays, zu einer problematischen Sozialvergessenheit der Demokratietheorie – einer fehlenden Fundierung gängiger Demokratieverständnisse in sozialen und gesellschaftlichen Prozessen. In Anschluss an Dewey, Popper, Arendt und andere wird vorgeschlagen, Demo-kratie nicht primär entlang der normativen Idee der Selbstregierung oder als Set tradierter politischer Institutionen (von Wahlsystemen über Parlamente bis zum Rechtsstaat) zu ver-stehen – sondern als spezifische Gesellschaftsformation: als Formation, die ihre eigene Of-fenheit für sozialen Wandel auf Dauer stellt, indem sie gegen gesellschaftliche Prozesse der Verfestigung, Verkrustung und Essentialisierung anarbeitet. Diese Interpretation wird durch einen Blick in die Geschichte der Demokratisierung gestützt, die sich als Geschichte der Institutionalisierung von Mechanismen zur Prävention sozialer Schließung begreifen lässt. Gesellschaftstheoretisch kann man so von Demokratie als Emergenzphänomen sprechen: als Resultat des Zusammenspiels derartiger Präventionsmechanismen (bzw. ihrer funktionalen Äquivalente) in verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungsdimensionen.

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Demokratie. Eine kleine Polemik

Wirklich, ich kann es nicht mehr hören. Wenn es in Analysen vor und nach Wahlen, in denen anti-demokratische Kräfte zulegen, mal wieder heißt: Die anderen Parteien hätten „auf die falschen (häufig: zu ‚woken‘) Themen“ gesetzt. Politiker:innen hätten „die Bürgerinnen und Bürger nicht abgeholt, wo sie stehen“. Die Sachverhalte wären „nicht richtig erklärt“ worden, und überhaupt hätte man „die Sorgen der Leute nicht ausreichend ernst genommen“. Spätestens seit dieser unsäglichen Wahl am 5. November dürfte auch den Letzten klar sein: Wenn es jemanden gibt, der sich offenbar überhaupt nicht um die wirklichen Sorgen der Menschen kümmert, dann jene Menschen selbst. Das „Volk“ – dieser angebetete und gefürchtete, dieser selbstherrliche Popanz – sieht nämlich so aus: Menschen in prekären Verhältnissen wählen jemanden, der sich eigentlich nur um die Reichen schert (darunter: vor allem sich selbst); Menschen mit Migrationshintergrund wählen jemanden, der sie für wesenhaft kriminell hält (und letztlich effektiv für Menschen zweiter Klasse); und Frauen wählen jemanden, der sie mit einer Selbstverständlichkeit zu Objekten degradiert, mit der andere abends den Fernseher einschalten. Dafür sind nicht die Parteien verantwortlich. Diese Verantwortung trägt „das Volk“ schon selbst.

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