Demokratie. Eine kleine Polemik

Wirklich, ich kann es nicht mehr hören. Wenn es in Analysen vor und nach Wahlen, in denen anti-demokratische Kräfte zulegen, mal wieder heißt: Die anderen Parteien hätten „auf die falschen (häufig: zu ‚woken‘) Themen“ gesetzt. Politiker:innen hätten „die Bürgerinnen und Bürger nicht abgeholt, wo sie stehen“. Die Sachverhalte wären „nicht richtig erklärt“ worden, und überhaupt hätte man „die Sorgen der Leute nicht ausreichend ernst genommen“. Spätestens seit dieser unsäglichen Wahl am 5. November dürfte auch den Letzten klar sein: Wenn es jemanden gibt, der sich offenbar überhaupt nicht um die wirklichen Sorgen der Menschen kümmert, dann jene Menschen selbst. Das „Volk“ – dieser angebetete und gefürchtete, dieser selbstherrliche Popanz – sieht nämlich so aus: Menschen in prekären Verhältnissen wählen jemanden, der sich eigentlich nur um die Reichen schert (darunter: vor allem sich selbst); Menschen mit Migrationshintergrund wählen jemanden, der sie für wesenhaft kriminell hält (und letztlich effektiv für Menschen zweiter Klasse); und Frauen wählen jemanden, der sie mit einer Selbstverständlichkeit zu Objekten degradiert, mit der andere abends den Fernseher einschalten. Dafür sind nicht die Parteien verantwortlich. Diese Verantwortung trägt „das Volk“ schon selbst.

Wir stehen also vor der unfassbaren Tatsache, dass der älteste demokratische Staat der Welt (erneut) einen manifesten Anti-Demokraten, ja, wenn man auf manche seiner eigenen Worte hört: regelrechten Faschisten zu ihrem Staatsoberhaupt gewählt hat; einen Mann, der für alle Welt hörbar zur illegitimen Machtübernahme aufgerufen hat, der ganze Menschengruppen als Dreck bezeichnet und nicht nur gegenwärtige Autokraten offenbar ziemlich cool und nachahmenswert findet (hoch im Kurs: Wladimir Putin), sondern auch noch Adolf Hitler-Fanboy ist. Wer ernsthaft glaubt, das eigene Kreuz sei gut gesetzt, wo es einen solchen Kandidaten kürt, der kann sich nicht auf „die Parteien“, „die Politik“, „die Regierung“ berufen. Dem mangelt es schlicht an politischer Urteilskraft, genauer: an der Fähigkeit, eine so basale Unterscheidung mitzuvollziehen, wie diejenige zwischen Demokratie und Autokratie. Oder, vielleicht noch schlimmer: der hält demokratische Grundnormen schlicht für einen Inhalt unter vielen – das mit den Autobahnen haben die Nazis ja schließlich auch ganz gut hinbekommen.

Dabei will ich gar nicht so tun, als sei der qualitative Sprung, der demokratische von autokratischer Politik trennt, offensichtlich. Es hat schon Gründe, warum es Jahrtausende gedauert hat, bis man Mechanismen gefunden hatte – von Rechtsstaatlichkeit über Parlamentarismus bis zum durch allgemeine Wahlen legitimierten Machtwechsel –, die es erlaubten, demokratische Ordnungen in Massengesellschaften zu installieren. Genau besehen ist es eher umgekehrt: Im gängigen Verständnis der „Herrschaft des Volkes“ wird Demokratie als simpler Mechanismus politischer Entscheidungsfindung missverstanden – so simpel, dass man gar nicht recht wüsste, wofür Urteilskraft eigentlich nötig sein sollte. Demokratie ist demnach einfach da, wo Politik das macht, was die Bürger:innen sagen. Oder meinen. Oder wollen. Oder brauchen. (Was ja jeweils etwas anderes sein kann.) Dass „das Volk“ nicht eins ist, dass sich sein „Wille“ als intransparent erweist und auch als zeitlich instabil, lässt sich im politischen Prozess zwar ständig beobachten. Und dass „das Volk“ sogar dazu in der Lage ist, Demokratie abzuschaffen, hatte man auch schon mal gehört. Dennoch erscheinen solche Hinweise gerne als lästige akademische Verkomplizierung, weit weg vom politischen Alltag. „Das Volk“ wird so als Letztinstanz demokratischer Politik radikal überhöht. Und weil den Volkswillen dingfest zu machen dem altbekannt aussichtsarmen Unterfangen gleicht, einen Pudding an die Wand zu nageln, greift man in einer individualisierten Gesellschaft routinemäßig auf eine zweite zentrale Letztinstanz zu, um die erste zu materialisieren: sich selbst. Wer heute an das Volk denkt, der stelle sich dieses als eine „Gemeinschaft der Mini-Könige“ vor, so hatte der niederländische Philosoph Gerard de Vries schon vor Jahren einmal kritisiert – lauter selbstgewisse, absolute Monarch:innen. Was ich sage, gilt. Das Volk bin ich.

Dabei gibt es verschiedene Traditionen des Nachdenkens über Demokratie – von John Dewey über Karl Popper bis zu Jürgen Habermas –, die genau mit diesen Problemen einer Konzeption von Demokratie als „Herrschaft des Volkes“ umgehen. Die drei erwähnten Ansätze sind dabei in sich sehr unterschiedlich, gemein ist ihnen allerdings die Einsicht: Demokratie kann nicht bedeuten, schlicht den je tagesaktuellen Meinungen und Stimmungen nach dem Mund zu reden. Was diese Organisationsform der Gesellschaft stattdessen auszeichnet, das ist das Kunststück: den politischen Prozess auch für künftige Stimmungen und Meinungen offen zu halten. Offenheit also, nicht etwa Volkshörigkeit, wäre demnach das zentrale Kriterium für Demokratie. Popper setzt hierfür bei Ideologien an, die problematisch geschlossene Weltsichten transportieren und kritisiert sie; Habermas betont die Bedeutung politischer Verfahren für die Revidierbarkeit einmal getroffener Entscheidungen und damit für das Offenhalten öffentlicher Diskurse. Bei Dewey hingegen steht die Erziehung im Mittelpunkt – und damit die Menschen, von deren Verantwortung ich hier ausgegangen war.

Tatsächlich hielt Dewey, Gründungsfigur pragmatistischer Philosophie im ausgehenden 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, sein Buch mit dem Titel „Demokratie und Erziehung“ für das wichtigste unter den eigenen Werken. Das mag heute eigentümlich erscheinen, da sich Diskussionen über Demokratie nicht selten in der Kritik von Wahlsystemen und in der Einforderung von Mitbestimmung erschöpfen. Doch Dewey dachte Demokratie viel grundsätzlicher: nicht nur als Regierungssystem, das an bestimmten Punkten auf eine Gesellschaft Einfluss nehmen kann. Sondern als einen „Modus des Zusammenlebens“, der diese Gesellschaft als Ganze fundamental durchdringt und formt. Und eine solche Gesellschaft, eine offene Gesellschaft, ist darauf angewiesen – davon war Dewey überzeugt –, dass ihre Angehörigen in der Lage sind, sie in Kraft zu setzen und zu unterhalten; jeder Gesellschaftsform die zu ihr passenden Subjekte. Deshalb also stellt Dewey das Problem der Erziehung ins Zentrum seines Nachdenkens über Demokratie: Eine demokratische Gesellschaft braucht demokratische Subjekte, und demokratischen Subjekten muss Offenheit als Grundhaltung im Erziehungsprozess fundamental eingeschrieben werden.

Unter Offenheit verstand Dewey dabei seinerzeit vor allem Offenheit gegenüber sozialem Wandel: Demokratischen Subjekten gelingt es, diesen im Sinne einer Transformation zum (sozial-wissenschaftlich-technologisch) Besseren zu gestalten. Heute würden wir darüber hinaus wohl noch andere Formen der Offenheit betonen wollen: etwa die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt, bei gleichzeitiger Offenheit dafür, sich auch mal von Fakten in der eigenen Sichtweise irritieren zu lassen. Mit demokratischer Erziehung im Dewey’schen Sinne ist also weit mehr gemeint als das, was wir heute meist unter politischer Bildung verstehen, nämlich die Vermittlung konkreten Wissens über das politische System. Demokratisch erzogene Subjekte sind für Dewey vor allem solche, die gelernt haben, für alle Arten von Erfahrungen offen zu sein und daraus wiederum zu lernen – und sei es die Erfahrung der eigenen Unwissenheit und Ungewissheit. Mit Dewey fällt es schwer, „das Volk“ als Ansammlung von „Mini-Königen“ zu denken – oder als „Bürger:innen“ im ursprünglichen Wortsinn, die sich hinter den Mauern etablierter Verfahren oder fixer Ideen verschanzen und die meinen, allein die Berufung auf den Willen der Mehrheit garantiere bereits den Dienst an der demokratischen Sache. Demokratische Subjekte hingegen müssen gar nicht politisch dauerinvolviert sein, um ein Bewusstsein dafür zu haben: dass Demokratie immer prekär bleibt und je situativ aktiv hervorgebracht werden muss.

Wenn ich also sage: Die Menschen – nicht „die Parteien“ oder „die Politik“ – tragen Schuld am schleichenden Autoritärwerden gesellschaftlicher Ordnungen, wie wir es derzeit weltweit erleben können, dann meine ich damit nicht: die meisten Menschen seien eben schlicht zu dumm für den politischen Prozess. Und wenn ich sage, dass die Überhöhung des „Volkes“ a priori – also vor jeder Leistung, vor jedem Verdienst, vor jeder Erfahrung – selbst zum demokratischen Problem wird, so will ich damit nicht einer Abkehr von allgemeiner Mitbestimmung das Wort reden (schließlich erlangt man politische Erfahrung nur im Prozess). Was ich zum Ausdruck bringen will: Demokratische Subjekte verstehen sich nicht als Könige – viel eher vielleicht verstehen sie sich als Lehrlinge. Als Lehrlinge nämlich, die ein komplexes Handwerk lernen, indem sie es tun; die erst die Fähigkeit erwerben müssen, sich auf immer wieder neue Situationen, Entwicklungen und Probleme einzustellen; und denen es erst nach und nach gelingt (demokratische) Qualitäten zu erkennen. Demokratisches Subjektsein ist kein gottgegebenes Privileg. Demokratisch muss man werden.  

„Bleib einfach so, wie du bist“ ist also so wenig ein guter demokratischer Leitsatz, wie man ihn etwa einem Tischler oder einer Krankenschwester an ihren ersten Lehrtagen einbläuen würde. Wer sich qua Volkszugehörigkeit bereits für kompetent hält, ist schon auf Abwegen. Die Unterscheidung zwischen demokratischer und autokratischer Politik ist nicht etwa so einfach, dass alle dumm sind, die sie nicht nachvollziehen können. Sondern sie ist so schwierig, dass man sich anstrengen muss, sie zu treffen. Demokratisches Subjektsein will gelernt sein. Wo Populist:innen, Rechtsextremist:innen und Faschist:innen Wahlen gewinnen, ist dieses Wissen offenbar verloren.

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