Das ist ein Kommentar, den ich im Nachgang einer Netzwerktagung im Dezember 2016 geschrieben habe. Es hatte damals so ausgesehen, als ließe sich daraus etwas mehr machen, eine Diskussion über den gegenwärtigen Status der Netzwerkforschung in Deutschland vielleicht? Hat nicht geklappt, klappen halt immer mal Sachen nicht. Vielleicht war der Text auch zu allgemein angelegt, aber mir hat das Schreiben jedenfalls geholfen. Deshalb jetzt also hier, sozusagen zum Jahrestag jener Tagung, ein weiterer Eintrag in meinem digitalen “Denktagebuch” 🙂
- Warum sich mit der Netzwerkforschung auseinandersetzen?
„Ich habe da wirklich so eine Begeisterung für Netzwerke!“ Mit diesem Satz zwischen Beschreibung des Ist-Zustands und performativem Aufruf leitet Christian Stegbauer eine Veranstaltung ein, die sich selbst als vorläufigen Kumulationspunkt der Geschichte deutscher Netzwerkforschung versteht[1] und daher folgerichtig in der Gründung einer eigenen „Gesellschaft für Netzwerkforschung“ mündet. Das Ereignis wird flankiert von einer Aufsatzreihe in der „Soziologie“[2], in der bekannte deutsche VertreterInnen des Netzwerkansatzes aus verschiedenen Disziplinen Bedeutung und Gewinn desselben für ihr jeweiliges Forschungsfeld zusammentragen und hervorheben. Die Netzwerkforschung formiert sich, die Begeisterung schlägt mittlerweile bis ins Zentrum der soziologischen Debatte in Deutschland durch. Und wer würde sie nicht verstehen, diese Begeisterung? Verschiedene Faktoren wirken zusammen, um das „Netzwerk“ zu einer der wirkmächtigsten Vokabeln der Gegenwartskultur zu machen – diese Faktoren sind mittlerweile so evident, dass man allein bei deren Andeutung schon das Gähnen der Leser zu hören glaubt: technische, global-politische, wirtschaftliche, private (und einige mehr) Entwicklungen gehen in eine Richtung, die zumindest in Teilen adäquat mit Attributen von Dezentralität, Enthierarchisierung, Flexibilität, multipler Konnektivität und Potentialität versehen werden können. Längst schlägt sich die Wirkungsmacht des Netzwerks auch in der sozialwissenschaftlichen Stellenstruktur nieder – nicht wenige der neu ausgeschriebenen Stellen erwarten einen Bezug zur Netzwerkforschung. Jüngster Ausdruck der wissenschaftlichen Bedeutung des Netzwerkbegriffs ist nun also die Gründung einer deutschen, interdisziplinär angelegten Netzwerkgesellschaft. Ich nehme dieses Ereignis zum Anlass, die Entwicklung der soziologischen Netzwerkforschung einer Reflexion sozusagen „von halbaußen“ zu unterziehen.
- Drei Stränge der Netzwerkforschung
Beginnen wir zunächst mit einer kleinen Rekapitulation. Für was interessiert man sich
eigentlich, wenn man sich für Netzwerke interessiert? Anstelle der üblichen Erzählungen zu Akteuren und ihren Beziehungen (bzw. für die fortgeschrittenen NetzwerkerInnen unter uns: von Knoten und ihren Kanten) möchte ich an den Anfang eine Differenzierungsthese setzen: interessiert man sich für Netzwerke, so interessiert man sich entweder a) für bestimmte Typen sozialer Beziehungen als soziale Phänomene, b) für die Bestimmung sozialer Phänomene durch deren Beziehungskonstellationen, oder c) für eine relationale Perspektive auf soziale Phänomene. Zunächst mag das alles irgendwie ähnlich klingen, tatsächlich aber markieren diese drei Varianten grundsätzlich unterschiedliche Zugänge zu sozialen Beziehungen. Es lohnt sich, kurz zu notieren, inwiefern das der Fall ist.
a) Als Netzwerkforscher kann man sich also für die Bestimmung von Typen von Beziehungen als distinkte soziale Phänomene interessieren. Der Fokus auf Beziehungen als soziale Phänomene – man könnte vielleicht von Beziehungsphänomenologie sprechen – ist soziologisch zunächst einmal sehr plausibel, lässt sich Soziologie doch als Wissenschaft vom Zusammenleben der Menschen verstehen. Anstatt, wie die klassische Psychologie, auf Individuen zu blicken, konzentriert man sich auf die Formen des Dazwischen – die soziale Beziehung wird zum Grundmotiv der Soziologie. Die Selbstverortung gegenwärtiger Netzwerkforschung findet hier einen zentralen Anker: die Ausdifferenzierung der Netzwerkforschung als ein eigener disziplinärer Strang lässt sich als Einlösung eines soziologischen Urversprechens betrachten. Als prominenten Zeugen kann sie dabei Max Weber heranziehen, der mit seiner Definition der sozialen Beziehung den Nullpunkt der Bestimmung des Beziehungsbegriffs markiert. Indem er die Beziehung versteht als „ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer“ (Weber 1922, S. 13), wird Weber zum Vater vor allem dieses ersten Strangs der Netzwerkforschung, welcher nach der sinnhaften Gestalt konkret vorliegender Beziehungen fragt. Hier wird also die Beziehung selbst zum Forschungsgegenstand, die Erkenntnisleistung liegt in dessen Bestimmung. Beispiele für ein solches Erkenntnisinteresse bieten Arbeiten, die sich mit einer bestimmten Beziehung als distinktes soziales Phänomen auseinandersetzen – etwa mit der spezifische Konstitution eines ins Leben gerufenen Netzwerks deutscher Gründerinnen[3], oder mit Formen der Betreuungsbeziehung während der Promotion[4]. Auch die in den Reihen der Netzwerkforschung nicht selten desavouierte Studie von Manuel Castells zur Netzwerkgesellschaft (Castells 1996) lässt sich übrigens in diese Sparte der Netzwerkforschung einreihen: Castells analysiert den Wandel gesellschaftlicher Beziehungen als Bruch zwischen durch Gruppenzugehörigkeiten beschränkten und entlang von Marktpotentialen entfesselten Beziehungskonstellationen – wie diese Konstellationen im Einzelnen aussehen ist dabei gar nicht so wichtig. Ganz anders bei der nächsten Variante der Netzwerkforschung.
b) Als Netzwerkforscherin kann man sich aber auch für die Bestimmung sozialer
Phänomene durch die Analyse ihrer Beziehungskonstellationen interessieren. In diesem Fall ist die Beziehung selbst gerade nicht, wie bei der Beziehungsphänomenologie, Forschungsgegenstand, sondern vielmehr analytisches Mittel, um ein anderes soziales Phänomen zu erklären. Dieser Strang der Netzwerkforschung lässt sich als Netzwerkanalyse bezeichnen, sie ist die derzeit sicherlich dominante und erfolgreichste Form der Netzwerkforschung. Die Netzwerkanalyse – oder Social Network Analysis (SNA) – ist dabei gerade aufgrund der Einfachheit ihrer Prämissen so erfolgreich (Stegbauer 2017, S. 19): Sie geht davon aus, dass sich prinzipiell jedes soziale Phänomen in ein Netz von „Knoten“ und „Kanten“ (Wassermann/Faust 1994) auflösen lässt – Soziologie wird zugespitzt als Wissenschaft vom Einfluss sozialer Kontakte verstanden. Während die Beziehungsphänomenologie meist mit dem Standardrepertoire quantitativer und qualitativer empirischer Methodik arbeitet, ermöglicht diese extreme Formalisierung eines gegebenen Beziehungsnetzes die mathematische Bearbeitung mit Hilfe der Graphentheorie und damit den Einsatz ganz neuer Verfahren: nun lassen sich etwa, um das Grundvokabular der SNA anzuführen, Dichten von Netzwerken, Zentralitätsmaße, Broker-Positionen, Blockmodelle, strong ties und weak ties, Transitivität und strukturelle Löcher ermitteln. Mit deren Hilfe kann man beispielsweise aufzeigen, in welchem Ausmaß staatliche Akteure auch in vermeintlich postdemokratischen Zeiten im Zentrum politischer Geschehnisse stehen[5], oder wodurch sich robuste von labilen Netzwerken unter Bedingungen organisationaler Personalfluktuation auszeichnen[6]. Viel mehr als mit Weber wird diese Tradition der Netzwerkforschung mit Georg Simmel in Verbindung gebracht, der sich statt für Inhalte (bzw. Sinngehalte) für soziale Formen interessiert (Simmel 1992, S. 19ff.) – etwa für den Unterschied von dyadischen und triadischen Beziehungsstrukturen, bzw. für „quantitative Bestimmtheit der Gruppe“ allgemein (Simmel 1992, S. 63ff.). Und ähnlich wie bei Simmel hängt der Erfolg dieser Spielart von Netzwerkforschung sicherlich damit zusammen, dass man ihr regelrecht kritische Kapazitäten zuschreiben kann – in dem Maße nämlich, wie es ihr gelingt, Einflussfaktoren und Wirkmechanismen aufzudecken, die auf der Oberfläche des Diskurses nicht zu erkennen, also nicht im Bewusstsein der jeweiligen Akteure repräsentiert sind. So erklärt sich auch das heilige Staunen, das den Betrachter mitunter bei Ansicht der bunten Visualisierungen von Netzwerken überkommen kann: er hat das Gefühl, einer bislang verborgenen Wahrheit, den eigentlich wirksamen Faktoren auf den Grund zu gehen.
c) Als Netzwerkforscher kann man sich aber auch für eine relationale Perspektive auf das Soziale einsetzen. Während nun die Beziehungsphänomenologie sich für Beziehungen als eine (wichtige) Klasse sozialer Phänomene interessiert, die SNA bereits einen Schritt weitergeht indem sie Beziehungen als zentrale Einflussfaktoren beliebiger sozialer Phänomene begreift, bringt nun diese als Relationale Soziologie (Fuhse/Mützel 2010) betitelte Spielart der Netzwerkforschung die Generalisierung der Bedeutung von Beziehungen zur Vollendung: Die stark theoretisch orientierte Relationale Soziologie verkehrt letztlich die Stellung von sozialem Phänomen und Relation – statt des konkret vorliegenden Phänomens wird die Beziehung zum Fixpunkt der Betrachtung, eine jegliche soziale Erscheinung tritt in ihrer unvermeidlichen Bezogenheit auf etwas anderes und damit in ihrer Kontingenz in den soziologischen Fokus. Vielmehr noch als die SNA schließt die Relationale Soziologie damit an Simmel an, der schon früh erkannt hat, dass es etwa „das Eigene“ nur dort gibt, wo sich ein „Fremdes“ identifizieren lässt (Simmel 1992, S. ), oder dass Armut immer in Relation zum jeweils gesellschaftlich verfügbaren Reichtum steht (Simmel 1992, S. 512ff.). Der Fokus der Relationalen Soziologie auf die konstituierende Leistung der Beziehung gipfelt schließlich in einem „antikategorialen Imperativ“ (Emirbayer/Goodwin 1994, S. 1414), in der Absage also an alle Versuche, Aufklärung der sozialen Welt durch die Festschreibung bestimmter Wesenseigenschaften in Kategorien zu erreichen.
Alle diese drei zentralen Stränge der Netzwerkforschung – also die Beziehungsphänomenologie, die Social Network Analysis und die Relationale Soziologie – tragen zur (Wieder-)Belebung der Auseinandersetzung mit der Bedeutung sozialer Beziehungen bei: anstelle des Fokus auf soziale Akteure (oder noch allgemeiner: jeglicher sozialer Entitäten) als Dreh- und Angelpunkt soziologischer Erklärung tritt der Aufweis der Bedingtheit allen sozialen Geschehens durch relationale Einbettung (Granovetter 1985). Hier ist der zentrale Verdienst dieser drei in sich so unterschiedlichen Stränge zu sehen, und es ist der hauptsächliche Grund der großen gegenwärtigen Beliebtheit von Netzwerkforschung überhaupt. Da es sich durchaus um ein gemeinsames Verdienst handelt wird verständlich, weshalb die Differenzierung zwischen jenen unterschiedlichen Varianten im Forschungsdiskurs häufig verschwimmt: man begnügt sich mit der vereinnahmenden Anrufung einer notwendigen „relationalen Perspektive“ (Stegbauer 2017, S. 18).
- Grenzen der Netzwerkforschung
Doch wo doch eine solche – meist implizit bleibende – Differenzierung unternommen wird, dort stehen diese drei Varianten der Netzwerkforschung nicht so friedlich nebeneinander, wie das hier der Fall ist. In diskursiven Reinigungsbewegungen wird mitunter versucht, überhaupt nur einem einzelnen jener unterschiedlichen Zugänge als legitime Form der Netzwerkforschung Anerkennung zu verleihen. Die SNA kann sich dann durchaus als sinnfreie Mathematik, die Relationale Soziologie als reine Philosophie repräsentiert finden. Am härtesten trifft es aber in der Regel die Beziehungsphänomenologie: der an sie gerichtete und zum Zwecke der Selbstverortung praktisch allgegenwärtige Vorwurf, sie gebrauche den Begriff des Netzwerks ja „bloß metaphorisch“, ist einer der schlimmsten, den die Netzwerkgemeinde zu vergeben hat. Gleichzeitig bleibt bezeichnenderweise unklar, was genau damit gemeint ist – der Hinweis auf den metaphorischen Begriffsgebrauch bleibt selbst Metapher. Aus meiner Sicht stoßen wir mit genau dieser auf den ersten Blick belanglos scheinenden Unklarheit an die zentralen Grenzen, vor denen die gegenwärtige Netzwerkforschung steht. Ich möchte versuchen, diese Grenzen in drei Thesen zu formulieren.
These 1: Die propagierte Vorrangstellung von Relationen gegenüber Kategorien erschüttert den Status der mit Netzwerkforschung erzielten Erkenntnis. Betrachten wir zur Klärung dieser These zunächst den geäußerten Vorwurf des „bloß Metaphorischen“ etwas genauer. Wogegen richtet er sich? Vor allem trifft er diejenigen Untersuchungen, die sich zwar für Beziehungen interessieren, Erkenntnis aber nicht durch genaue Rekonstruktion einer vorliegenden Beziehungskonstellation (etwa durch Aufschlüsselung ihrer Knoten und Kanten sowie deren Abbildung in einer Netzwerkkarte) zu erreichen suchen. Stattdessen gebrauchen sie den Netzwerkbegriff, so wie etwa Castells, um damit einen wahrnehmbaren sozialen Unterschied zu bezeichnen, also gerade das Netzwerk von etwas anderem zu differenzieren und diese Differenzierung zu qualifizieren. Wer sich gegen eine solche Form der Netzwerkforschung in genannter Weise pauschal richtet, diskreditiert sie letztlich – die Verwendung des Metaphernbegriffs weist entsprechenden Untersuchungen die Stellung des Assoziativen, Ungenauen, Literarischen und damit eigentlich: Unwissenschaftlichen, zu. Das aber ist problematisch, denn genau betrachtet lässt sich nicht trennscharf zwischen einer Metapher – also einem „sprachliche[n] Ausdruck, bei dem ein Wort (eine Wortgruppe) aus seinem eigentlichen Bedeutungszusammenhang in einen anderen übertragen wird“[7] – und einer soziologischen Kategorie unterscheiden: letztlich ist jede soziologische Kategorie Metapher, weil kein Begriff „eigentlich“ und ursprünglich im Dunstkreis der soziologischer Analyse beheimatet ist – weder das Kapital noch der Habitus, weder die Rolle noch das System. In der Konsequenz wendet man sich durch den diskreditierenden Gebrauch des Metaphernbegriffs gegen den üblichen Erkenntnisweg der Soziologie überhaupt, der zentral auf Kategorien als analytische Instrumente setzt. Eine solche Abwendung vom üblichen Erkenntnisweg geschieht aber dort ganz bewusst, wo ein „antikategorialer Imperativ“ propagiert wird. Die Bedeutung von Kategorien im Rahmen der sozialen Analyse wird hier generell (und durchaus bedenkenswert) in Frage gestellt, weil es keine soziale Kategorie vermag, Unterschiede absolut und endgültig festzuschreiben, weil jede soziale Kategorie immer im Zusammenhang zu sehen ist mit den konkreten Verhältnissen, für deren Beschreibung sie gebraucht wird. Damit wendet man sich aber zugleich gegen die gängige Vorstellung davon, was überhaupt Erkenntnis ist: seit Immanuel Kant begreifen wir sie unweigerlich als kategorienvermittelten Prozess. Was ist Erkenntnis, wenn nicht die Einsicht in systematische Unterschiede, die sich auf einen Begriff bringen lassen? Der Appell, „Sozialtheorie nicht mit Kantianismus [zu] verwechseln“ (Latour 2010, S. 190), bleibt so lange eigentümlich amorph, wie völlig unklar ist, was die Alternative sein könnte: wie sieht sie aus, die relationale Erkenntnistheorie[8]? Was heißt es, wenn man die Vorrangstellung der Relation propagiert? Handelt es sich dabei in letzter Konsequenz um eine generelle Absage an das Streben nach überlokaler Erkenntnis, ist sie als Appell zur Selbstbescheidung auf das Nachzeichnen je ideosynkratischer Beziehungskonstellationen zu verstehen? Und was ist mit den ganz eigenen Begriffen der Netzwerktheorie, den strukturellen Löchern, den Brokern, den Knoten und Kanten: welche Bedeutung kommt dem Einsatz von Metaphern auf der Ebene ihrer methodischen Verwendung zu? Diese Fragen bleiben bisher ungeklärt.
These 2: Die Netzwerkforschung läuft Gefahr, Beziehungskonstellationen mit dem zu untersuchenden Phänomen zu verwechseln und damit dessen Erkenntnis zu behindern. Der Metaphernvorwurf führt uns auch zu einer zweiten zentralen Grenze gegenwärtiger Netzwerkforschung. Er scheint nämlich zu implizieren, dass die Netzwerkforschung auf die Frage verzichten zu können glaubt: was eigentlich das zu untersuchende soziale Phänomen ist. Denn was ist die methodisch geleitete Suche nach passenden Metaphern, nach adäquaten Kategorien zur Beschreibung eines Forschungsgegenstandes anderes als genau dies: der Versuch, einem bisher noch nicht begriffenen Phänomen mittels Begriffsarbeit beizukommen. Nun war der Netzwerkforschung zuvor durchaus beträchtliches kritisches Potential zuerkannt worden – das heißt also, diese Forschungsrichtung leistet selbst einen wichtigen Beitrag zur gelungenen Unterscheidung, zum gelungenen Verständnis des untersuchten Phänomens[9], indem es ihr immer wieder gelingt, bisher verborgene Einflusskonstellationen aufzudecken. Dieses kritische Potential droht sich aber dort in sein Gegenteil zu verkehren und zum Erkenntnishindernis zu werden, wo Netzwerkforschung neben Beziehungen keine weiteren Einflussfaktoren mehr erkennen kann, wo also das Phänomen als in seinen Beziehungen aufgehend verstanden wird. Diese Gefahr ist überall dort greifbar, wo nicht zwischen der Struktur eines sozialen Phänomens und dessen Beziehungsstruktur unterschieden wird, oder wo die Visualisierung eines sozialen Netzwerkes bereits für Erkenntnis gehalten wird. Dabei ließe sich schon von Simmel lernen, dass die ausschließliche Bezugnahme auf nur einen Faktor für die soziologische Erklärung immer problematisch ist. Dieser hatte nämlich unter der Analyse sozialer Formen weit mehr verstanden als die Rekonstruktion von Beziehungskonstellationen – Leopold von Wiese, Soziologe der Folgegeneration und Urheber eines „Periodensystems“ sozialer Beziehungen unter Berufung auf den großen deutschen Soziologen (Wiese 1966), hatte dies missverstanden. Nicht der Beziehungsbegriff als solcher ist also das Problem, sondern dessen vereinseitigende Absolutsetzung. Analoge Kritik hatte die Kritische Theorie bereits früh an die quantitative Sozialforschung gerichtet: die auch dort im Formalismus gipfelnde mitunter extreme Vereinseitigung der Betrachtungsweise eines gegebenen Phänomens birgt immer die Tendenz in sich, selbstgenügsam zu werden, den Forschungsgegenstand als Ganzes aus dem Blick zu verlieren und damit: von ihm weg und in die Irre zu führen (Horkheimer/Adorno 1988). Die große Expertise der Netzwerkforschung droht also in eine spezielle Form von Gegenstandsblindheit umzuschlagen, verliert sie gegenüber ihrem Fokus auf Beziehungen das zu erkennende Phänomen als Ganzes aus den Augen.
These 3: Um ihr eigenes Erkenntnispotential auszuloten, muss die Netzwerkforschung ihre Stellung im etablierten Kanon der Theoriearchitektur klären. Dort, wo nicht der Anspruch besteht, mit Netzwerktheorie bisherige theoretische Ansätze komplett zu ersetzen, zeigt sich immer wieder der Versuch, theoretische Überlegungen zu Netzwerken systematisch im Rahmen des etablierten Theorienkanons zu verorten[10]. Das ist durchaus begrüßenswert, wirken diese Unternehmungen doch der oben problematisierten Tendenz zur Generalisierung der Bedeutung von Beziehungen entgegen. Aber diese Verortung kann nicht Selbstzweck sein, es gilt genau zu klären: Was lässt sich mit dem Netzwerkbegriff beschreiben, das andere theoretische Ansätze nicht gleichermaßen erfassen können? Worin besteht der Mehrwert, versucht man etwa netzwerk- und gesellschaftstheoretische Ansätze in Zusammenhang zu bringen? Und vor allem: auf welcher theoretischen Ebene nimmt man eine solche Verortung vor? Entsprechende Versuche bedienen sich häufig der etablierten Standardunterscheidungen: zwischen Akteur und Struktur optieren netzwerktheoretische Ansätze für die Strukturseite, zwischen Mikro, Meso und Makro tendieren sie zur Mesoebene. Das Spannende an der Netzwerkforschung ist aber doch gerade, dass sie sich nicht so einfach in die etablierten Unterscheidungen einfügen will: Beziehungen sind nicht einfach Struktur, Netzwerke werden sowohl unterhalb als auch oberhalb der Mesoebene relevant. Vielmehr scheinen Beziehungen nicht mehr und nicht weniger zu sein als unabdingbare Träger jeglicher Ausbildung strukturwirksamer Bedeutungen, Verhaltensweisen, inhaltlich bestimmter Erwartungen. Statt als eine Art Superstruktur werden Beziehungen damit als „Infrastruktur“ gesellschaftlicher Prozesse begreifbar – als unterhalb sozialer Erwartungen (und gerade deshalb so überraschend) operierende Strukturkomponente also, die meist im Verborgenen wirkt, von der aber der Rahmen des strukturell Möglichen abgesteckt wird. Um genau zu klären, was das heißen kann, muss aber Begriff der Beziehung, muss der Begriff des Netzwerks sorgfältiger behandelt werden als bisher, müssen beide als Erkenntnis ermöglichende Kategorie vielleicht noch ernster genommen werden – weder theoriebegriffliche Subsumtion noch methodologischer Automatismus führen hier weiter. Die Reflexion der theoretischen Verortung des Netzwerks kommt der so wichtigen Auseinandersetzung mit den Erkenntnispotentialen und Erkenntnisgrenzen dieser gegenwärtig so erfolgreichen Forschungsrichtung gleich. Sie verhindert, dass ihr Kernbegriff für das Ganze und das Wahre gehalten wird, sie verhindert, um es sehr zugespitzt zu formulieren: eine drohende Hybris des Netzwerks.
[1] Die Rede ist von der Tagung „Der Stand der Netzwerkforschung“, die vom 5. bis 6. Dezember 2016 in den Räumen der Schader-Stiftung in Darmstadt stattgefunden hat.
[2] Jahrgang 46, Heft1 im Jahr 2017 der Mitgliederzeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
[3] Fenna B. Neubauer, Vortrag zum Thema „Netzwerke als Mittel zur Förderung von Entrepreneurial Diversity: Bestandsaufnahme und empirische Analyse am Beispiel der ‘Vorbild-Unternehmerinnen Deutschland’“, gehalten bei der Tagung „Der Stand der Netzwerkforschung“ von 5. bis 6. Dezember 2016 in Darmstadt.
[4] Martina Kenk, Vortrag zum Thema „Persönliche Unterstützungsnetzwerke promovierter Bildungsforscherinnen und Bildungsforscher“, gehalten bei der Tagung „Der Stand der Netzwerkforschung“ von 5. bis 6. Dezember 2016 in Darmstadt.
[5] Niclas Wenz, Vortrag zum Thema „Der Hessische Energiegipfel aus der Perspektive der sozialen
Netzwerkanalyse“, gehalten bei der Tagung „Der Stand der Netzwerkforschung“ von 5. bis 6. Dezember 2016 in Darmstadt.
[6] Robert Panitz, Vortrag zum Thema „Double temporality in a permanent organization: Knowledge network formation between internal management consultants“, gehalten bei der Tagung „Der Stand der Netzwerkforschung“ von 5. bis 6. Dezember 2016 in Darmstadt.
[7] Abgerufen am 17.2.2017 unter http://www.duden.de/rechtschreibung/Metapher.
[8] Bei Latour (2010) lassen sich tatsächlich interessante Ansätze einer alternativen Erkenntnistheorie erkennen, die statt auf den souveränen Erkenntnisakt – also die Vorstellung, Erkenntnis müsse „geschaffen“ werden – auf den Moment der Überraschung durch soziales Geschehen fokussiert, welcher auf vorhandene Erkenntnispotentiale hinweist, die es zu „stabilisieren“ gilt. Wenn sie auch den Erkenntnisvorgang anders konzipiert, so sieht es doch nicht so aus, dass sie deshalb auf Kategorien verzichten kann. Das bliebe es aber noch auszuarbeiten.
[9] Kritik leitet sich ja ab vom griechischen Wort für „trennen“, „scheiden“.
[10] Siehe etwa die Tagung der DGS-Sektion Netzwerkforschung zum Thema „Netzwerke in gesellschaftlichen Feldern“, die von 20. bis 21. Mai in Berlin stattgefunden hat.
Literatur
Castells, Manuel (1996): The Information Age: Economy, Society, and Culture, Volume 1: The Rise of the Network Society. Oxford: Blackwell.
Emirbayer, Mustafa; Goodwin, Jeff (1994): Network Analysis, Culture, and the Problem of Agency. American Journal of Sociology 99 (6), S. 1411-1454.
Fuhse, Jan; Mützel, Sophie (2010): Relationale Soziologie – zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag.
Granovetter, Marc (1985): Economic Action and Social Structure: the problem of embeddedness. American Journal of Sociology 91 (3), S. 481-510.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer.
Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Stegbauer, Christian (2017): Interdisziplinäre Netzwerkforschung. Soziologie 46 (1), S. 17-22.
Wassermann, Stanley; Faust, Katherine (1994): Social network analysis. Methods and applications. Cambridge: Cambridge University Press.
Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: JCB Mohr.
Wiese, Leopold von (1966): System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Prozessen und den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre). Berlin: Duncker und Humblot.
Wunderbar geschriebener und klug argumetierender, kenntnisreicher Kommentar zur Thematik “Stand der Netzwerkforschung”, auf den ich erst jetzt gestoßen bin. Vielen Dank, so macht Wissenschaftskommunikation an der Schnittstelle zur Öffentlichkeit Spaß!