Fast, fast, fast ist es so weit, mein Projektantrag zu einer “Kritik anti-essenzialistischer Soziologie” ist beinahe abgeschickt. Zur Feier des Tages stelle ich jetzt hier mal einen kleinen Versuch hin, den ich im Rahmen von Vorüberlegungen zu besagtem Antrag geschrieben habe – sicher keine fertige Argumentation, aber der ein oder andere interessante Gedanke ist vielleicht drin. Also:
Die Dialektik des Anti-Essenzialismus
Ein Essay zum Zustand der Vernunft im „postfaktischen Zeitalter“.
In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung hat Albrecht Koschorke neulich beschrieben, wie die Welt derzeit aus den Fugen gerät.1 Doch es war keine der üblichen Einlassungen zum bedenklichen Zustand des globalen Politischen, wie man sie derzeit (völlig zu Recht, würde ich meinen) allenthalben liest. Nein, Koschorkes Aufmerksamkeit richtet sich auf die akademische Welt, genauer gesagt: Er fragt sich, wie der geisteswissenschaftliche Diskurs mit den politischen Verwerfungen zusammenhängt, die zur Ausrufung eines „postfaktischen Zeitalters“ geführt haben. Er schreibt:
„Die Linken sehen sich mit der verwirrenden Tatsache konfrontiert, genau die Verhältnisse, die sie dem Neoliberalismus und damit einer als rechts identifizierten politisch-ökonomischen Praxis anlasten, nun von rechtsaussen angegriffen zu werden. Sogar die Kritik an Verfahren politischer Repräsentation, das heisst an einem System des Für-andere-Sprechens, die eine Herzensangelegenheit der French Theory war, wird nun, mit grösserer politischer Breitenwirkung, von Rechtspopulisten vorgetragen […]. Die poststrukturalistisch grundierte Demokratie- und Institutionenkritik hat auf diese Weise unwillkommene Verbündete bekommen, und das nicht erst seit Stephen Bannons berüchtigter Formulierung, der amerikanische Staat gehöre «dekonstruiert».“
Koschorke zeichnet hier nach, wie sich gegenwärtig eine politische Richtung die poststrukturalistische Infragestellung institutionalisierter Gewissheiten aneignet, die, gemessen an ihrer Zielsetzung, dem Entstehungszusammenhang des Poststrukturalismus diametral entgegen steht. Im Laufe des Textes kristallisiert sich so die drastische These heraus: Das „postfaktische Zeitalter“, mit seiner dreisten Behauptung „alternativer Fakten“ trotz gegenteiliger Evidenzen, mit seiner Orientierung an emotionaler Wirkung statt an prüfbarer Wahrnehmung, ist nicht zu denken ohne eine bestimmte Form des geisteswissenschaftlichen Theoretisierens. Diese These, so drastisch sie ist, ist nicht ganz neu. Schon seit einiger Zeit werden in Feuilletonbeiträgen immer wieder Vermutungen angestellt darüber, wie sich die Rechten des Argumentationsrepertoires der Linken bedienen und welchen Einfluss postmoderne Rhetorik auf den politischen Diskurs der Gegenwart ausübt.2 Der Tenor ist überall ähnlich: Der Poststrukturalismus, oder allgemeiner, anti-essenzialistisches Denken, scheint die derzeitige Entfesselung politischer Beliebigkeit erst möglich gemacht zu haben – geisteswissenschaftlicher Anti-Essenzialismus ist Bedingung der Möglichkeit der gegenwärtigen Konjunktur des Postfaktischen.
Anti-Essenzialismus – ein beiläufiger Versuch zur Bestimmung einer Theorie des Unbestimmten
Nun herrscht, wie Koschorke es oben formuliert hat, Verwirrung. Wie konnte es passieren, dass die eigenen Überlegungen zum Nicht-Festgeschriebensein der Wirklichkeit sich derart von ihrem Ursprung entfremden? Und wie lässt sich das verlorene Terrain wieder gut machen? So werden sich sicherlich einige VertreterInnen anti-essenzialistischen Denkens fragen. Andere wiederum werden wohl jegliche Wahlverwandtschaft zwischen postfaktischer und anti-essenzialistischer Infragestellung absoluter Wahrheit in Zweifel ziehen. Was aber hat es auf sich mit dem, was hier als Anti-Essenzialismus bezeichnet wird?
Infragestellung absoluter Wahrheit, damit ist bereits ein zentraler Impuls anti-essenzialistischen Denkens benannt. Der Begriff selbst findet verstärkt Verwendung seit der Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte der 1980er/1990er Jahre, die sich an der Frage des Wahrheitsstatus von Aussagen über das Geschlecht entzündet hat.3 Stein des Anstoßes ist dabei ein Streit um das Verhältnis von Weiblichkeit und Wissenschaft: Die eine Seite ist der Ansicht, Frauen hätten es deshalb in der Wissenschaft schwerer, weil die herrschende, männlich geprägte Wissenschaftskultur den weiblichen Bedürfnissen (von Emotionalität und Ganzheitlichkeit ist hier beispielsweise die Rede) nicht entspräche.4 Die andere Seite hingegen identifiziert genau diese Aussage als problematisch, weil sie eben von einem (aus der empirisch-historischen Perspektive nicht zu rechtfertigenden) Wesen des Weiblichen ausgehe, damit also eine Differenz zwischen Mann und Frau absolut setze und so selbst dazu beitrage, dass Weiblichkeit und Wissenschaftlichkeit als inkompatibel erscheinen würden5 – das Denken in Essenzen an sich wird ihr zum Problem. Wie wohl zu erkennen ist: es ist diese, die letztere Position, die den Raum anti-essenzialistischen Denkens markiert.
Die Debatte ist mittlerweile verklungen, der Begriff des Anti-Essenzialismus aber ist ihr Vermächtnis. Heute dient er als Qualitäts- und Identifikationsmerkmal bestimmter Formen von Theoriebildung, die im „Essenzialismus“ – also der Suche nach dem Wesen der Dinge als Ziel wissenschaftlicher Bemühungen – den gemeinsamen Feind erkennen; „essenzialistisch“ vorzugehen gilt ihnen als „Vorwurf, der schlimmer kaum sein könnte“.6 Anti-essenzialistischen Theorien lassen sich dabei in der Soziologie insbesondere Poststrukturalismus, Pragmatismus, Systemtheorie und neuere Netzwerktheorien zurechnen.7 Eine derartige Gruppierung mag zunächst verwundern8, sind diese Theorien doch in sozial- und gesellschaftstheoretischer Hinsicht mitunter sehr unterschiedlich angelegt. Die anti-essenzialistische Klammer zeigt sich erst in der epistemologischen Dimension, hier tritt ihre Zusammengehörigkeit zutage.
Zu den wichtigsten Merkmalen anti-essenzialistischer Epistemologie scheinen mir dabei zu gehören: Erstens, eine Vorstellung vom Gegenstand der Erkenntnis, die diesen Gegenstand nicht als in sich geschlossene Entität (und damit gerade nicht als Gegenstand a priori) begreift, also auch den Gedanken absoluter Wahrheit nicht zulässt. Ist das, was wir untersuchen, ist der Lauf der Welt vor allem durch seine eigene „Unbestimmtheit“9 gekennzeichnet, wird die immer neue Suche nach überzeitlichen Wesenheiten zum sinnfreien Unterfangen – uns bleibt nichts anderes zu tun übrig als die je konkret auftretenden Zusammenhänge und Beziehungen in ihrer Komplexität nachzuzeichnen. Zweitens, Begriffe erscheinen aus anti-essenzialistischer Perspektive als zentrale Erkenntnismittel problematisch, da sie selbst essenzialisierend wirken. Wie Norbert Elias, der mittlerweile als Vordenker moderner Netzwerktheorie betrachtet wird10, formuliert: Begriffe geben dem durch sie Bezeichneten „den Charakter von ruhenden und isolierten Substanzen“11, wo einmal etwas mit einem Begriff belegt ist, wird es vor unserem inneren Auge zur stabilen, unabhängigen Entität. Der Anti-Essenzialismus hegt also ein generelles „Unbehagen […] an der Kategorie“12, dem durch eine Temporalisierung und Abstrahierung der eigenen Untersuchungssprache begegnet wird.13 Drittens schließlich zeichnet sich die anti-essenzialistische Herangehensweise durch eine Entleerung der Position des Erkenntnissubjekts aus – nicht nur billigt sie den Forschenden keine privilegierte Stellung im Erkenntnisprozess zu, die Stellung des Menschen wird generell prekär. Die anti-essenzialistische Position ist zugleich, zumindest in weiten Teilen, eine posthumanistische Position.
Die anti-essenzialistische Utopie
Viel schöner als diese kühle Aufzählung schafft es Richard Rorty, einer der bedeutendsten Vertreter des neueren Pragmatismus, die anti-essenzialistische Erkenntnishaltung zu charakterisieren. In seinen Vorlesungen von 1993 (also zur Hochzeit der Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte) am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen, die sich als kleine Manifeste anti-essenzialistischen Denkens lesen lassen, führt er aus:
„Wir Antiessentialisten versuchen, das Bild der Sprache als eines zwischen uns und die Gegenstände geschobenen Schleiers durch das Bild zu ersetzen, wonach die Sprache ein Verfahren ist, die Dinge aneinander festzuhaken. Die Essentialisten erwidern an dieser Stelle im Regelfall […] wir müßten über eine gewisse vorsprachliche Kenntnis der Gegenstände verfügen: eine Kenntnis, die sprachlich nicht in den Griff zu bekommen ist. […] Um zu veranschaulichen, was mit nichtsprachlichem Wissen gemeint ist, schlägt der Essentialist an diesem Punkt der Auseinandersetzung mit der Faust auf den Tisch und zuckt zurück. Dadurch hofft er vorzuführen, daß er eine gewisse Kenntnis erworben und eine unmittelbare Beziehung zum Tisch hergestellt hat, die sich dem Zugriff der Sprache entzieht. Ohne sich durch den Vorwurf der Beziehunglosigkeit zur Realität aus der Ruhe bringen zu lassen, wiederholt der Antiessentialist, wenn man wissen wolle, was der Tisch wirklich und eigentlich sei, werde man keine bessere Antwort erhalten als: ‘Er ist das, worauf die folgenden Aussagen zutreffen: Er ist braun, häßlich, schmerzhaft für schlagende Fäuste, kann jemanden zum Stolpern bringen, besteht aus Atomen und so weiter und so fort.’ […] Wenn man auf den Tisch schlägt oder ihn in seine Atome zerlegt, erreicht man nichts weiter, als daß man ihn zu einigen weiteren Dingen in Beziehung setzen kann. Man wird dadurch nicht aus der Sprache heraus- und ins Faktische hineingeführt, noch gelangt man aus der Erscheinung in die Wirklichkeit […].“14
Was Rorty mit dieser Episode – des vom Essenzialisten zu Beweiszwecken geschlagenen Tisches, die vom Anti-Essenzialisten bloß mit Ungerührtheit quittiert wird – sagen möchte, ist Folgendes: PragmatistInnen lassen sich nicht von der materialen Präsenz der Wirklichkeit aus der Ruhe bringen, sie hatten sie nie bestritten. Was sie bestreiten ist die Sinnhaftigkeit des Versuchs, das eigentliche So-Sein jener Wirklichkeit aufdecken zu wollen. Denn zum einen ist selbst ein so profanes Ding wie der Tisch nie nur eines, sein wirkliches Wesen (sofern er eines hat) lässt sich nicht auf den Begriff bringen, es lässt sich nicht in eine einzelne Aussage packen, ohne dass zugleich viele weitere Aussagen gleichermaßen zutreffen. Zum anderen (das wird allerdings anderswo in seinen Vorlesungen deutlicher) macht die historische Perspektive klar, dass sich im zeitlichen Verlauf sehr zuverlässig ändert, was einstmals als eindeutiger Kern einer Sache galt. Es geht Rorty also in keiner Weise darum, eine Realität jenseits der Sprache zu bestreiten, und auch nicht so sehr um das Beharren darauf, dass es keine Kant’schen „Dinge an sich“ hinter den Erscheinungen gibt. Was er sagen möchte ist lediglich: dass solche Unterscheidungen wissenschaftlich irrelevant sind. Und dass sie, werden sie dennoch in Anschlag gebracht, unter Umständen sogar Schaden anrichten können.
Wer anti-essenzialistische Argumentation nicht gewohnt ist, wird vermutlich nochmal nachfragen: Die Suche nach dem Wesen der Dinge mag sich ja als nicht besonders hilfreich erweisen (der Meinung war schließlich auch als einer der ersten Karl Popper15). Aber wie kann sie denn schädlich sein? Ein Teil der Antwort darauf ist bereits weiter oben angeklungen, als es um die Frage nach der Essenz des Weiblichen ging: Sucht man soziologisch nach Wesenheiten von Phänomenen, so setzt man die soziale Relevanz ihrer Differenz voraus, im Beispiel also der Differenz zwischen Mann und Frau. Die Untersuchung lässt dann nicht zunächst offen, wie das betreffende Phänomen erklärt werden kann (denkbar wären ja etwa auch Unterscheidungen zwischen freundlichen/unfreundlichen, erfahrenen/unerfahrenen oder reflektierten/unreflektierten Menschen), sie schreibt vielmehr eine bestimmte Unterscheidung von vorneherein fest. Dadurch wiederum wird gerade die Sichtweise zementiert, die jene Unterscheidung als relevante Unterscheidung a priori nahegelegt hatte. Dies ist der Schaden, den Essenzialismus anrichten kann: Durch eindeutige Festschreibungen, die sich in der Verwendung unhinterfragter Kategorien äußert, schränkt er die in der sozialen Welt angelegten Freiheitsgrade in massiver Weise ein. Dagegen wendet sich die poststrukturalistische Kritik – Abstinenz von Kategorien bedeutet für sie Befreiung von restriktiven Zuschreibungen.
Poststrukturalistischen Ansätzen geht es um Befreiung, Rorty und die pragmatistischen Ansätze gehen fast noch etwas weiter, ihnen geht es um Verbesserung. Beide Varianten des Anti-Essenzialimus haben erkennbar eine politische Dimension, sie reagieren auf die politischen Umstände ihrer Zeit, indem sie ihr geringere Restriktivität und größere Offenheit abverlangen. Der Pragmatismus betrachtet sich allerdings explizit als „Philosophie der Demokratie“16 – es geht ihm um mehr als bloß darum, Menschen gegenwärtig von gesellschaftlichen Schranken zu befreien. Es geht ihm um die Entwicklung einer Form des Denkens, die dem menschlichen Potential zur gemeinsamen Gestaltung von Zukunft entspricht.
Essenzialistische Herangehensweisen leisten das nicht: Verstanden als Philosophien des Status quo, sind sie nicht auf die Veränderungen gefasst, die unser Kanon der Wahrheiten im Laufe der Zeit notwendig durchläuft. Klassische erkenntnistheoretische Kategorien wie Realität, Vernunft und Wesen17 konzentrieren sich darauf, so meint Rorty, das Gegenwärtige genau zu erfassen. Damit verfehlen sie aber die eigentliche epistemologische Herausforderung, die sich erst entlang der „Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft“18 offenbart – die Offenheit der Zukunft, und nicht etwa die Existenz einer Realität unabhängig vom menschlichen Bewusstsein, ist das eigentliche Bezugsproblem wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens. Rorty plädiert daher für ein Denken, das akzeptiert, dass sich die Qualität gegenwärtiger Einsichten erst an ihrer zukünftigen Verwendung ermessen lässt. Erst ein solches Denken ist in der Lage Antworten zu finden auf die nunmehr ins Zentrum gerückte Frage: Wie im sozialen Prozess die Welt verändert wird und so Zukunft entsteht. Das ist es, was Rorty meint, wenn er dazu aufruft, das Streben nach Erkenntnis durch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu ersetzen: Nicht Wissenschaftlichkeit aufzugeben ist sein Appell, sondern im Sinne solchen Hoffens im Gegenteil noch viel vorbehaltloser den vielfältigen, den mitunter kreativen, den mitunter experimentellen Wegen der Bewältigung sozialer Situationen nachzugehen. Rorty entwirft auf diese Weise zugleich die demokratische Utopie einer Gesellschaft, in der die Möglichkeit zur gemeinsamen Entfaltung von Potentialen gegeben ist, ohne an die überkommenen Festschreibungen der Vergangenheit gebunden zu sein. Erst anti-essenzialistisches Denken ermöglicht eine solche Utopie.
Die Entfaltung der Dialektik
Damit komme ich endlich zurück auf die Ausgangsfrage: Wie kann es also sein, dass genau dieses Denken in Verbindung gebracht wird mit einer Kultur des Postfaktischen, die anti-liberale und autoritäre politische Bewegungen trägt? Ich glaube fast, es ist wichtig an dieser Stelle zu betonen: Weder kann man Rorty, Michel Foucault, Judith Butler und all den anderen VertreterInnen anti-essenzialistischer Ansätze unterstellen, insgeheim und eigentlich (sozusagen ihrem Wesen nach) mit autoritären Haltungen zu liebäugeln, noch ist davon auszugehen, dass Anti-Liberalismus eine unmittelbare Nebenwirkung des Konsums anti-essenzialistischer Texte ist – von „Überwachen und Strafen“ gelangt man nicht ohne Umwege zu Vladimir Putin. Ebenso wenig hatten schließlich auch Max Horkheimer und Theodor Adorno behauptet, FaschistInnen seien zu FaschistInnen geworden deshalb, weil sie zu viel Immanuel Kant gelesen hätten. Nein, wie in ihrem phänomenalen Werk, der „Dialektik der Aufklärung“, geht auch hier die Vermutung in die Richtung: dass akademische Entwicklungen einen Denkraum eröffnet haben, in dem sich nun regressive politische Tendenzen breit machen können.
Schon der Titel dieses Essays hat es erahnen lassen, die „Dialektik der Aufklärung“ ist sein argumentativer Hauptbezugspunkt. Deren bahnbrechende These ist ja bekannt: Gerade dadurch, dass seit der Aufklärung nichts neben der systematisierenden Vernunft als Maßstab des Handelns Geltung zugesprochen wird, fällt die Welt in das Dunkel absoluter Irrationalität zurück. Das vereinseitigte Streben verkehrt sich in sein Gegenteil, hierin besteht die titelgebende Dialektik. Mir geht es vor diesem Hintergrund lediglich darum, anzudenken: ob es vorstellbar wäre, für den Fall der sich insbesondere seit den 1960er/1970er Jahren verstärkt ausbildenden anti-essenzialistischen Vernunft in analoger Form von einem dialektischen Umschlag auszugehen. Ob also denkbar ist, dass gerade das Streben nach vollkommener Freisetzung von allen Festschreibungen hineinführt in Verhältnisse, in denen man sich von immunisierten und totalen Festschreibungen nicht mehr frei zu machen imstande ist.
Im Mittelpunkt der Untersuchung bei Horkheimer und Adorno steht die systematisierende Vernunft und das Problem, das entsteht, wenn man sich allein auf sie beschränkt. Unter dem Begriff der systematisierenden Vernunft lässt sich die von Kant maßgeblich geprägte Vorstellung verstehen, die spezifische Leistung der Ratio bestünde in der Fähigkeit des menschlichen Geistes, die Mannigfaltigkeit der Welt in Gedanken zum System zu ordnen. Oder in der schon von Kant verwendeten Terminologie: dem Besonderen das Allgemeine abzugewinnen. Auch wenn VertreterInnen des Anti-Essenzialismus nur ungern mit diesem Begriff in Verbindung gebracht werden: Mit der anti-essenzialistischen Vernunft stelle ich dem eine weitere Form des Vernunftgebrauchs gegenüber. Damit ist aber zweierlei impliziert: Erstens, dass neben der systematisierenden Vernunft der Aufklärung mit der anti-essenzialistischen Vernunft der Postmoderne gegenwärtig eine weitere Vernunftform maßgebliche gesellschaftliche Bedeutung erlangt hat. Eine weit reichende These, die sicherlich noch geprüft gehört. Zweitens, dass sich diese beiden Formen des Vernunftgebrauchs, obwohl ihr Anspruch beide Male die Freisetzung von tradierten Zuschreibungen ist, maßgeblich unterscheiden. Denn während die systematisierende Vernunft solche Freisetzung erreichen will, indem sie die tatsächlichen, die eigentlichen Wirkzusammenhänge aufdeckt und damit mythische Annahmen verwirft, setzt die anti-essenzialistische Vernunft auf die Einsicht, dass sich die Welt nicht durch essenzielle Wirkzusammenhänge abbilden lässt. Der Weg anti-essenzialistischer Vernunft ist derjenige der Behauptung des vielfältigen und wandelbaren Besonderen gegenüber der Subsumtion unter ein Allgemeines.
Der Erfolgszug anti-essenzialistischen Denkens hat in der Wissenschaft begonnen, sicherlich beeinflusst von der Kritik an eben solcher Subsumtion durch die Kritische Theorie. Aber was geschieht mit Wissenschaft unter anti-essenzialistischen Vorzeichen? Anti-essenzialistischen Positionen ist oft und von verschiedenen – realistischen, normativistischen – Seiten aus vorgeworfen worden, relativistisch zu argumentieren und so Wissenschaft ihrer Grundlage zu berauben. Wozu noch nach Wissen streben, wenn doch Beliebiges gewusst werden kann? Meist weisen Anti-EssenzialistInnen den Vorwurf der Entwertung von Wissenschaft entschieden von sich: nur, weil etwas relativ ist, sei es ja noch lange nicht beliebig.19 Gerade, wer anti-essenzialistisch vorgehe, der müsse doch besondere Genauigkeit und Sorgfalt walten lassen, um den immer wieder neuen Gang des Sozialen nachzeichnen zu können; er schließlich könne sich nicht auf die Gültigkeit vorab fixierter Modelle verlassen.20 Ich denke jedoch, an dieser Stelle wird etwas Entscheidendes übersehen: dass nämlich auch anti-essenzialistisches Denken performativ wirksam ist.
Das hatte doch bereits die Kritische Theorie dem (sogenannten) Positivismus und der Anti-Essenzialismus dem (sogenannten) Essenzialismus vorgeworfen: Selbst wenn sie sich dagegen verwehren würden, selbst wenn sie dies nie explizit machten, so stünden sie doch implizit für Sichtweisen auf die Welt, die den gesellschaftlichen Status quo verabsolutieren. Das Beharren auf das (quantifizierte) So-Sein eines Phänomens funktioniere schließlich nur auf dem stabilen Boden der Gegenwart, entsprechend könne dieser nicht hinterfragt werden. Mit ihren gegenwartsfundierten Ergebnissen verfestigten sie daher weiter eine Sichtweise auf die Welt, die sie selbst voraussetzen – sie wirkten performativ. Genau diese Argumentationsweise macht den Anti-Essenzialismus ja so subversiv: Er muss sich nicht mit Explizitem aufhalten, implizit Essenzialistisches lässt sich in jeglichem wiederkehrenden Kategoriengebrauch, in jeder, auch der historischen, bestimmenden Betrachtung entdecken. Der schneidendste Vorwurf gegen Anti-Essenzialismus lautet daher nicht, dass er relativistisch ist. Sondern dass er relativierend wirkt. Selbst wenn es nicht so gemeint gewesen ist, kann es doch so kommen; Anti-Essenzialismus kann eine Sichtweise auf die Welt stützen, in der keinerlei erarbeitetes Wissen mehr anerkannt ist. Anti-essenzialistisches Streben nach Offenheit wird damit ganz genauso performativ wirksam wie positivistisches/essenzialistisches Streben nach Eindeutigkeit. Die schärfsten KritikerInnen der praktischen Wirkmächtigkeit von Theorie werden, so scheint es, von ihrer eigenen Performativität überrascht.
Anti-essenzialistisches Denken hat unweigerlich Folgen für die Praxis der Wissenschaft – und das eben nicht nur im positiven Sinne, im Sinne einer größeren Offenheit dem Gegenstand gegenüber. Es lässt sich die Vermutung anstellen, dass die Kritik an der Neoliberalisierung von Wissenschaft nicht die einzig bedeutsame Richtung ist, die Kritik an Wissenschaftspraxis momentan einschlagen kann. Eigene Erfahrungen ermöglichen nur Spekulationen über anti-essenzialistische Nebenfolgen, aber wo sollte solche Spekulation erlaubt sein wenn nicht in einem Essay. Ausgehend also von meinen Erfahrungen würde ich sagen: Die anti-essenzialistische Denkweise bedingt eine zunehmend politisierte (und eben nicht nur ökonomisierte!) Betrachtung von Wissenschaft, oder bedingt sie zumindest mit. Das heißt: WissenschaftlerInnen im Allgemeinen (zum Beispiel in Gremien- oder Institutssitzungen) und wissenschaftliche Beiträge im Speziellen werden sehr stark daraufhin beobachtet, wie sie sich positionieren, wie sie sich in Relation setzen zu Anderen; nicht so sehr aber daraufhin, was sie ihrem Inhalt nach wollen oder meinen. Gegenüber dem, was hinter der Oberfläche der Argumente vermutet wird – kontingente Machtprozesse oder idiosynkratische Interessen etwa21 – treten die Argumente selbst in den Hintergrund. Überhaupt, Argumentation: Geht es dabei nicht darum, durch den stringenten Gebrauch von Sprache Zwangsläufigkeit zu erzeugen? Und ist der Anschein von Zwangsläufigkeit vor dem Hintergrund immer kontingenter Prämissen solcher Argumentation nicht notwendig problematisch? Naiv diejenigen, die dem Gehalt der Worte folgen, der – Realität ist schließlich nie eindeutig – immer auch anders sein könnte. Texte sind Konstrukte, auf eine bestimmte Wirkung hin geschrieben; wer sich zum Streben nach Erkenntnis bekennt, auch sie oder er klingt in anti-essenzialistischen Ohren eigentümlich naiv. Wenn ich entsprechend von einer Politisierung der Wissenschaft spreche, so meine ich damit die Tendenz, vom sich auf Allgemeinheit beziehenden Eigenwert der Inhalte abzusehen, also Ent-Essenzialisierung im Sinne des Zweifels am selbsttragenden Gehalt von Aussagen zu betreiben. Kontingente Positionierungen inkommensurabler Besonderheiten treten stattdessen in den Vordergrund. Weil nichts eindeutig und absolut gilt, geraten Geltungsfragen ins Abseits. Wissenschaftliche Bestimmungen sind politisch geworden.
Das sind, wohlgemerkt, bloß Spekulationen, und es sind auch bloß Spekulationen zu einer Tendenz. Es soll nicht behauptet werden, so sei Wissenschaft im Moment eben – auch und besonders in den anti-essenzialistischen Regionen der Wissenschaftslandschaft trifft man zugleich auf das genaue Gegenteil dessen, was hier beschrieben wurde: auf die äußerst akribische, ausdauernde, ernsthafte und reflektierte Auseinandersetzung mit dem Gegenstand der eigenen Forschung. An dieser Stelle kann man aber in Abwandlung einer Vermutung Koschorkes, ebenfalls aus dem eingangs bereits zitierten Zeitungsartikel, fragen: ob nicht anti-essenzialistische Wissenschaft auf dem Boden einer realistischen Wissenschaftskultur – mit ihrem professionellen Selbstverständnis und ihrer institutionalisierten Ernsthaftigkeit – gedeiht. Und ob sie nicht in Probleme gerät, wird sie dieser Basis beraubt.
Politische Befreiung und ihr Gegenteil
Vielleicht hat die Frage nach den Folgen des Anti-Essenzialismus für die Wissenschaft schon etwas näher gebracht, wie man auf den Zusammenhang von anti-essenzialistischem Denken und einer Kultur des Postfaktischen kommen kann. Auf den Zusammenhang also zwischen einem Denken, das mit der Dezentrierung des Wahrheitsbegriffs der politischen Festschreibung entgegenwirken wollte, und einer Kultur, die den bereits erfolgreich dezentrierten Wahrheitsbegriff dazu nutzt, um jede Form der Prüfung von Geltung in Zweifel zu ziehen und gegen Kritik immunisierte politische Festschreibungen hervorzubringen. Wahrscheinlich braucht es aber Beispiele aus dem gegenwärtigen politischen Diskurs, um die dort wirksame Dialektik von Befreiung und Festschreibung wirklich greifbar zu machen.
Moderne politische Diskussionsrunden, Talkshows, etc. profitieren von der Einsicht, dass nicht nur eine einzige (etwa die ExpertInnen-)Wahrheit existiert, dass es viele Perspektiven auf einen Sachverhalt gibt und dass Urteile selten eindeutig gefällt werden können. TeilnehmerInnen werden entsprechend bewusst so ausgewählt, dass verschiedene Stimmen zu Wort kommen (wenn sie sich dabei in die Haare geraten, umso besser). Pluralität und Offenheit heißt das Credo, doch damit wird zugleich der Glaube an einen Fluchtpunkt der Diskussion aufgegeben. Es sind genau solche Situationen, die Irmhild Saake beschreibt, wenn sie über die möglicherweise überbetonte normative Bedeutung von Gleichheit und Symmetrie in der Gegenwart nachdenkt. Es stellen sich dann Fragen wie die Folgenden: „Sollten nicht alle Argumente eine Chance haben? Müssen nicht auch die Argumente berücksichtigt werden, die sonst immer widerlegt werden? Sind gute Argumente vielleicht dann gut, wenn sie von jemandem formuliert werden, der sonst nicht gehört wird? Ist es legitim, wenn der [Experte] mit seinem vielen Wissen öfter Recht hat?“22 Unter anti-essenzialistischen Bedingungen erscheint argumentative Einigung als unmöglich, weil sich zwischen den Argumenten nicht endgültig entscheiden lässt. Wo Standpunkte zugleich inkommensurabel und bedeutsam erscheinen sind sie letzten Endes sakrosankt. Das anti-essenzialistische Bewusstsein für die Vielfalt der Perspektiven wandelt sich in eine Apologie des Besonderen.
Letztlich ist es auch ein bisschen praktisch für die TeilnehmerInnen am politischen Diskurs: Auf die Argumente der Anderen einzugehen ist dann bei weitem nicht so wichtig wie die packende Darstellung der eigenen Sichtweise. Auf einmal wird es sogar recht einfach, Argumente mit dem Hinweis abzutun, diese seien ja bloß Ausdruck einer bestimmten politischen Positionierung – der Grünen, beispielsweise, oder der Industrie, oder der Trump-GegnerInnen. An sich, also unabhängig von jenen Positionierungen, wird Argumenten in der Folge kein Wert zugesprochen, die Bedeutung der Positionierung wächst an. Letztlich verwandeln sich damit jene Merkmale, die anfangs lediglich als Auswahlkriterien für einen pluralen TeilnehmerInnenkreis bedeutsam waren, zurück in handfeste, unterscheidungswirksame Kategorien: Die Argumente einer lokalen Naturschützerin werden als Teil des „typischen“ Umweltnarrativs gelesen, wenn jemand Partei ergreift für die Unternehmenspolitik eines großen Konzerns entsteht Lobbyismusverdacht. Und wenn ich behaupte, dass es tatsächlich an der Zeit ist, sich der ambivalenten Wirkung der politisch korrekten Sprache bewusst zu werden – die sowohl Stereotypisierung und Stigmatisierung verhindern als auch Diskussionen über sozial relevante Unterscheidungen unterbinden und damit sozusagen „das Ende des Sagbaren“ einläuten kann – steht doch möglicherweise bereits die Frage im Raum, ob die Autorin nicht vielleicht doch ein wenig nach rechts tendiert. Ach, deshalb die kritischen Überlegungen zum Anti-Essenzialismus!
Die Apologie des Besonderen führt, gemeinsam mit der anti-essenzialistischen Neutralisierung von Gegenargumenten, zu einer neuen Dignität des Eigenen. Man fühlt sich im Recht, wenn man – etwa in den Foren der sozialen online-Netzwerke – mit Verve auf der eigenen Weltsicht beharrt. „Wozu soll ich mich rechtfertigen, so bin ich eben!“, das könnte der Wahlspruch dieser Einstellung sein. Die eigene Meinung wird blumig ausstaffiert, die Kritik der Anderen polemisch abgetan. Solche Tendenzen zur Überhöhung des Eigenen sind dabei natürlich nichts Neues. Neu ist allerdings, dass es zu solcher Überhöhung nicht deshalb kommt, weil die Korrektheit der eigenen Sicht auf die Welt eben eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit ist23, weil es vielleicht schlichtweg die dominante Sichtweise ist, der man anhängt. Sondern weil man gelernt hat, dass es legitim ist, am Eigenen festzuhalten.
Die neue Dignität des Eigenen scheint aber letztlich gerade nicht unbedingt zu einer „Singularisierung“ der Gesellschaft zu führen, in der die Menschen an ihrer unverwechselbaren Einzigartigkeit arbeiten, wie Andreas Reckwitz es analysiert24; zumindest nicht aus einer Makroperspektive betrachtet. Wenn die eigene Sichtweise von vorneherein sanktioniert ist, warum sollte man sich dann noch die Mühe machen, sich mit dem Anderen, dem Schwierigen, dem Komplexen auseinanderzusetzen? Das ist die große Stunde der einfachen, der unmittelbar eingängigen Erklärung, der viele Menschen gleichermaßen folgen können. Einmal frei, die eigene Sicht auf die Welt ins Belieben persönlicher Befindlichkeiten zu stellen, erhalten wieder die großen Metaerzählungen Konjunktur – jene Erzählungen, die eine so verführerisch eindeutige Weltsicht eröffnen. Der noch von Rorty gepflegte Glaube daran, „[i]m Hinblick auf die meisten Angelegenheiten allgemeinen Interesses [werde] die Gemeinschaft, der ich angehöre“25 schon darauf hinwirken, dass allzu „fixe Ideen“ aufgegeben würden, bewahrheitet sich nicht. Im Gegenteil: erst in der Gemeinschaft ist totale Fixierung möglich.
So erklärt sich schließlich die scheinbare Paradoxie, dass das postfaktische Zeitalter zugleich als Zeitalter der neuen Eindeutigkeiten erscheint.26 Unter Bedingungen komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse kann Eindeutigkeit erst dort entstehen, wo plausible Stimmen, die eine eindeutige Sichtweise zu widerlegen in der Lage wären, erfolgreich als kontingente Alternativen ausgeblendet werden können. Die Digitalisierung bietet die technische, die anti-essenzialistische Erkenntnishaltung jedoch die legitimatorische Basis für solche Ausblendung. Deren Eintreten für Offenheit führt so paradoxerweise in eine Situation, in der man sich irrationaler, absurder oder auch schlicht falscher Einlassungen nicht mehr effektiv erwehren kann. Die Dialektik des Anti-Essenzialismus wird offenkundig: Das Streben nach vollkommener Freisetzung von allen Festschreibungen kann in der Tat in Verhältnisse hineinführen, in denen man sich von immunisierten und totalen Festschreibungen nicht mehr frei zu machen imstande ist. Den Gedanken Horkheimers und Adornos folgend, scheinen wir an einem neuen gefährlichen Umschlagpunkt der Geschichte angelangt zu sein.
Was nun? Denken am Umschlagpunkt des Anti-Essenzialismus
Wenn es stimmt, dass eine politische Kultur des Postfaktischen nicht möglich ist ohne die akademische Denktradition des Anti-Essenzialismus, was bedeutet das dann für unser Denken, was heißt das für wissenschaftliche Erkenntnissuche? Liegt in der Rückkehr zum Realismus unsere einzige Chance, müssen wir aus normativen Gründen – um eine tragfähige Kultur der Wahrheitssuche zu erhalten – zur Korrespondenztheorie der Wahrheit zurückkehren? Die richtigen Antworten auf diese Fragen sind mir zwar unbekannt, doch denke ich nicht, dass wir diesen Weg gehen können bzw. sollten. Denn letztendlich würde er bedeuten, hinter die Errungenschaften des Anti-Essenzialismus zurücktreten zu wollen. Und diese Errungenschaften sind ja erheblich, die Kontingenz der Erkenntnis lässt sich nicht ungedacht machen, nur weil man es gerne so hätte.
Was stattdessen? Einmal noch möchte ich auf die Dialektik der Aufklärung zurückkommen – vielleicht hilft sie nicht nur bei der Diagnose, sondern eröffnet auch einen gangbaren Weg jenseits der Dichotomie von realistischem und anti-essenzialistischem Denken. Denn genau, wie es äußerst problematisch wäre, das anti-essenzialistische Denken als solches zu verurteilen, so ging es auch Horkheimer und Adorno nie darum, die systematisierende Vernunft an sich in Frage zu stellen. Sie schreiben: „Nicht was ihre romantischen Feinde [der Aufklärung] seit je vorgeworfen haben, analytische Methode, Rückgang auf Elemente, Zersetzung durch Reflexion ist ihre Unwahrheit, sondern daß für sie der Prozeß von vornherein entschieden ist“.27 Das Auffinden des Allgemeinen im Besonderen darf also nach wie vor als eine bedeutsame Leistung der Vernunft gelten. Gefährlich wird es erst, wenn nur noch diese Form der Subsumtion als vernunftgemäß betrachtet wird; wenn nur noch Geltung erhält, was sich in Zahlen, in Gesetzen, in Gattungsbegriffen ausdrücken lässt. Erst eine derart vereinseitigte Vorstellung des Vernunftgebrauchs bereitet totalitären Verhältnissen den Boden, die das Andere, das nichtidentische, das Abweichende tilgen müssen – koste es, was es wolle.
Vernunft ist mehr als Subsumtion, Vernunft ist aber auch mehr als die bewusste Abstinenz davon. Mit Horkheimer und Adorno könnte man vielleicht vermuten, dass wirkliche Aufklärung nur dort möglich ist, wo es gelingt, das Allgemeine und das Besondere in seiner Vermittlung zu denken, scheitern muss sie notwendig unter Bedingungen der Vereinseitigung. Aber das sind alles Begriffe, die dem gegenwärtigen soziologischen Diskurs eher fremd sind, die vielleicht ein bisschen aufgesetzt wirken. Mir geht es auch gar nicht um die Begriffe der Allgemeinheit – für den die systematisierenden Vernunft steht – und der Besonderheit – dem sich die anti-essenzialistische Vernunft zuordnen ließe. Mir geht es lediglich um die Überlegung: Wenn wir doch gegenwärtig erfahren, dass eine an ihr Extrem getriebene Form des Denkens, die absolute Freisetzung zum Ziel hat, das Gegenteil erzeugen hilft. Wenn wir feststellen, dass Versuchen zur eindeutigen Bestimmung – das Symbolische ist das Soziale! – konsequent mit Gegenbestimmungen – das Materielle ist das Soziale! – begegnet wird. Vielleicht lohnt es sich dann, über eine Renaissance dialektischen Denkens, und das jenseits der Kapitalismuskritik, nachzudenken.
Und damit komme ich abschließend auch nochmal auf Rorty und den Pragmatismus zurück. Rorty beschreibt ja selbst, wie Gesellschaft praktisch hervorgebracht wird, indem Menschen situativ immer neue Bestimmungen ihrer Welt erzeugen. Damit erzeugen sie aber zugleich die Bedingungen, um solche Bestimmungen hinter sich zu lassen: Erst durch Festschreibungen gewinnt der Mensch die Möglichkeit, über bestehende Festschreibungen hinauszuwachsen. Das Gleiche gilt für die gesellschaftliche Praxis der Theoriebildung: Ein Weiterdenken, ein mehr Verstehen ist nicht möglich ohne früheres Verstehen, ohne vorhergehende theoretische Festlegungen. Eine Denkrichtung, die ihr gesamtes Engagement darauf verwendet, theoretische Festschreibungen abzuwenden, übersieht das. Gesucht wird also eine Form des Denkens im Einklang sowohl mit der Kontingenz und als auch der Notwendigkeit der theoretischen Bestimmung. Eine Form des Denkens, die die Mannigfaltigkeit der Welt nicht aus den Augen verliert und der doch nicht alles gleich ist. Ein bisschen Dialektik könnte dabei helfen.
1 Koschorke, Albrecht: Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren. Neue Zürcher Zeitung vom 18.4.2018. Zuletzt abgerufen am 20.6.2018. https://www.nzz.ch/feuilleton/die-akademische-linke-hat-sich-selbst-dekonstruiert-es-ist-zeit-die-begriffe-neu-zu-justieren-ld.1376724
2 Zum Beispiel ein Jahr zuvor in einem Artikel in derselben Zeitung: Ott, Karl-Heinz: Die schöne postmoderne Beliebigkeit hat den Härtetest nicht bestanden. Neue Zürcher Zeitung vom 19.4.2017. Zuletzt abgerufen am 20.6.2018. https://www.nzz.ch/feuilleton/wahrheit-und-luege-die-schoene-postmoderne-beliebigkeit-hat-den-haertetest-nicht-bestanden-ld.1085978
3 Vgl. Hirschauer, Stefan (1992): Konstruktivismus und Essentialismus. Zur Soziologie des Geschlechtsunterschieds und der Homosexualität. Zeitschrift für Sexualforschung 5, S. 331-345.
4 Z.B. Keller, Evelyn (1985): Reflections on Gender and Science. New Haven: Yale University Press.
5 Hibner Koblitz, Ann (1987): A historian looks at gender and science. International Journal of Science Education 9 (3), S. 399-407.
6 Nagl-Docekal, Herta (1997): Schwerpunkt: Untiefen der Essentialismuskritik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1), S. 20-22.
7 Z.B. Fuchs, Stephan (2001): Against essentialism: a theory of culture and society. Cambridge: Harvard University Press, S. 3; Bonacker; Thorsten (2000): Die normative Kraft der Kontingenz. Nichtessentialistische Gesellschaftskritik nach Weber und Adorno. Frankfurt: Campus, S. 277.
8 Wenn auch nicht so sehr wie die „unwahrscheinliche Allianz“ (Brichzin, Jenni (i.E.): Netzwerkforschung. Rezension zu: Löwenstein, Heiko; Emirbayer, Mustafa (Hrsg.): Netzwerke, Kultur und Agency. Problemlösungen in relationaler Methodologie und Sozialtheorie. Meinheim: Beltz Juventa 2017.), gegen die sich anti-essenzialistische Ansätze wenden: „strategies such as interpretative sociology, phenomenology, symbolic interactionism, ethnomethodology, certain variants of Marxian analysis, and rational choice theory“ (Emirbayer, Mustafa; Goodwin, Jeff (1994): Network Analysis, Culture, and the Problem of Agency. American Journal of Sociology 99 (6), S. 1416).
9 Bzw. „indeterminancy“; Emirbayer, Mustafa; Mische, Ann (1998): What is agency? American Journal of Sociology 103 (4), S. 995; vgl. Müller, Julian (2015): Bestimmbare Unbestimmtheiten. Skizze einer indeterministischen Soziologie. München: Wilhelm Fink, S. 7.
10 Fuhse, Jan; Mützel, Sophie (2010): Relationale Soziologie: Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 18.
11 Elias, Norbert (1986): Was ist Soziologie? Grundfragen der Soziologie. Weinheim: Juventa, S. 136.
12 Haag, Christine (2003): Flucht ins Unbestimmte: das Unbehagen der feministischen Wissenschaften an der Kategorie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
13 Vgl. Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 54f.
14 Rorty, Richard (1994): Hoffnung statt Erkenntnis: eine Einführung in die pragmatische Philosophie. Wien: Passagen, S. 48f.
15 Popper, Karl (1979): Das Elend des Historizismus. Tübingen: JCB Mohr.
16 Rorty 1994, S. 12.
17 Ebd., S. 16.
18 Ebd., S. 13.
19 Vgl. Cilliers, Paul (1998): Complexity and Postmodernism. Understanding Complex Systems. London: Routledge: viii.
20 Vgl. Latour 2010, S. 201.
21 Brichzin, Jenni; Schindler, Sebastian (i.E.): Der Blick dahinter. Politische Erkenntnis jenseits des verschwörungstheoretischen Verdachts. Leviathan 46(3).
22 Saake, Irmhild (2016): Zum Umgang mit Unterschieden und Asymmetrien. Aus Politik und Zeitgeschichte 9.
23 Bourdieu, Pierre (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M., S. 668.
24 Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten – zum Strukturwandel der Moderne. Berlin: Suhrkamp.
25 Rorty 1994: 30.
26 Vgl. Nassehi, Armin (2015): Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Hamburg: Murmann.
27 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M: Fischer, S. 31.