Im Zug nach Chemnitz II oder: warum ich “Horst” fast ein bisschen dankbar bin.

Eine neue Erzählung nach einer wahren Begebenheit im Zug nach Chemnitz.

Eine unmögliche Situation war das. Beschissen würde man sagen, wäre man nicht im Internet, und wäre das Internet nicht so ein wundervoll zivilisierter Raum. Lieber also: unmöglich. So eine Situation, nach der sich einem oft hinterher die Fingernägel aufrollen vor Ärger, dass man das Falsche gesagt, getan, signalisiert hat, dass man der Situation nichts entgegenzusetzen hatte. Die überrollt dich dann, eine scharfe Welle, sie reißt dich an einen Ort, an den du nicht wolltest, Kontrolle weg.

Aber nicht diesmal. Diesmal nicht, deshalb ist auch die Situation vorbei und ich bin, naja, juhu, zufrieden. Also ab Anfang: Es ist Abend, und ich steige mal wieder in den Zug ein. Zweimal muss ich umsteigen, jetzt habe ich es geschafft. (Zugfahren mit umsteigen, noch dazu mit einer hauchdünnen Schicht Zeit für’s Umsteigen, sorgt für wesentlich mehr Adrenalin in meinem Leben, als ich bräuchte. Wenn ich es mir recht überlege: Ich glaube, auf dieses spezielle Hormon könnte ich recht generell verzichten. Lauern ja keine Bären mehr hinter den Straßenschildern, und dass meine Vorträge deshalb irgendwie besser würden habe ich auch noch nicht beobachten können.) Normalerweise fahre ich ganz früh los, aber diesmal muss es halt der Abend davor sein. Das ist deshalb bemerkenswert, weil meiner Erfahrung nach seltsame Situationen in Zügen sich überproportional häufig abends ereignen, die statistische Untersuchung steht allerdings noch aus (was auch daran liegen könnte, dass sich seltsame Situation so schwer operationalisieren lassen, dann lässt man’s lieber bleiben. Und auch die Ursachenforschung: ist die Dunkelheit halt einfach das Ambiente der komischen Typen, bringt der vergangene Arbeitstag temporär Verrückte hervor, oder doch ganz langweilig der Alkohol?) Egal, auf jeden Fall setze ich mich in eine dieser Vierersitzgruppen, bin dort alleine, nur vereinzelt sitzen außenrum noch ein paar andere Fahrgäste verstreut (alles Männer übrigens) und zunächst deutet auch nichts darauf hin, dass das gleich dank des Erscheinens eines dieser komischen Typen vorbei sein wird. So kommt es aber.

Da kommt er nämlich schon – ich glaube, er (nennen wir ihn Horst) ist ungefähr so alt wie ich, kurze Haare, dunkelblond, schlank, lockere Klamotten; Horst hält, anders als ich, ein Bier in der Hand.  Ein Mann ohne Zögern, ohne Zweifel, geht er rasch durch den Gang und wirft sich mir gegenüber in den Sitz. Jetzt teilen wir uns einen Tisch. Ohne Not, weil Platz wäre sonst überall genug gewesen. Oder er hätte sich zu einem der Männer im Abteil setzen können – ich denke, er hat es bewusst nicht gemacht. Auf Teilen habe ich heute Abend aber keine Lust mehr, Menschen ohne Zweifel sind mir eh suspekt und dieser Typ erst recht – ich habe eine Vorahnung, wie man sie halt nach über dreißig Jahren weiblichen Daseins aus Erfahrung hat: Der wird mir nicht meine Ruhe lassen. Ich tippe noch ein wenig lustlos auf meinem Laptop herum, aber mein Außenweltradar – “was passiert jetzt und wie muss ich darauf reagieren, damit es nicht unangenehm wird” – hat sich schon aktiviert, an arbeitsame Konzentration ist nicht zu denken. Ich probiere es mit dem eindeutigsten und zugleich taktvollsten (warum, zum Teufel? aber immerhin hat er zu diesem Zeitpunkt ja noch nichts getan…) Signal des Desinteresses, das mir in diesem Moment einfällt: der Laptop klappt zu, ich lege meine Arme auf den Tisch und meinen Kopf darauf, so schlafe ich, wenn ich im Zug schlafe, und das kann ich gut.

Kaum liegt mein Kopf auf meinen Armen, da geht es auch schon los. “Na, wo geht’s denn hin?” fragt mich Horst. Der Himmel weiß, warum ich ihm antworte, aber man bzw. frau ist ja, so hört man, auf Nettsein trainiert. “Nach Chemnitz”, sage ich (warum auch immer, ich hätte auch einfach “Plauen, Vogtland, oberer Bahnhof” sagen können) und mache da weiter, wo ich aufgehört hatte, mit dem Kopf auf den Armen. Das scheint ihn zu amüsieren, oder vielmehr scheint er sich an mir amüsieren zu wollen, weil amüsant bin ich doch gerade genau genommen nicht (sonst natürlich schon). “Hi hi hi, so müde”, giggelt er vor sich hin. Immer wieder murmelt er etwas – wirklich, es klingt fast liebevoll “so müde, gibt’s ja gar nicht”. Die deplatzierte Intimität seiner Stimme ist mir so unangenehm wie sein Blick, den ich, nichts sehend, auf meiner vornübergebeugten Gestalt weiß. Horst möchte, dass ich reagiere, dass ich mit ihm kokettiere, dass er ein Spiel beginnen kann, das er bestimmt. Ich mag nicht.

Also muss er andere Saiten aufziehen. Horst klopft neben mir auf den Tisch. “Chemnitz!”, ruft er, “wir sind da!”. Wir sind noch kaum fünf Minuten unterwegs, seit wir aus dem Hofer Bahnhof abgefahren sind. Krass, was für ein Arsch, denke ich mir. Nie, nie, nie, niemals würde ich auf die Idee kommen, so etwas zu machen: Jemanden, nachdem er eindeutige Signale des Situationsaustritts gesendet hat, in eine Situation zurückzuzwingen (na gut, außer bei meinen Studis vielleicht, wenn sie eindeutige Signale der Nichtseminarteilnahme durch Smartphonegebrauch gesendet haben, und… ach, lassen wir das einstweilen). Aber Signale, Haifischwale, das ist Horst völlig egal.  Er kann und er will offenbar die Situation bestimmen, er zwingt mich zur Reaktion.

Langsam richte ich mich für einen Moment wieder auf, blicke Horst an – mit bewusst fehlfokussiertem Blick, wie ich es dummerweise immer mache, wenn mir eine Situation unangenehm ist (ein Coach hat mich mal darauf hingewiesen, dass das dann auch wirklich jeder merkt…) -, werfe ihm entgegen: “Können Sie das bitte lassen.” Das scheint ihn schon wieder recht zu amüsieren: “‘Sie’, he he he, das gefällt mir”. Er kommt offenbar gar nicht recht darüber hinweg, dass ich ihn konsequent sieze, auch im späteren Verlauf unseres Austauschs nicht. Er würde doch so gerne spielen, ein Kater mit der Maus zwischen den Pfoten, und wer hätte schon davon gehört, dass die Maus den Kater siezt. Wie dem auch sei, ich lege wieder meinen Kopf auf meine Arme. Mit Schlafen wird das jetzt natürlich nichts mehr, aber das mit dem Situationsaustritt will zumindest nochmal versucht sein. Horst giggelt immer noch vor sich hin – das ist ja auch echt alles wahnsinnig lustig. Oder halt eben nicht. Nochmal ein paarmal versucht er es verbal: “Chemnitz, wir sind da! Hi hi hi!” Doch ich bin natürlich wild entschlossen, das wird nichts. Dass das so nichts wird, das merkt auch wieder der flotte Horst. Also macht er, was für ihn offenbar Sinn ergibt: Er greift mit einem Arm schräg über den Tisch, fasst mich an der Schulter an und fängt an daran zu rütteln.

Und jetzt passiert es. Sonst, wenn mir eine Situation unangenehm war, haben meine Bedenken oft die richtige Reaktion aufgefressen: Naja, so schlimm ist das ja gar nicht. Was, wenn nur mir das so unangenehm ist? Der meint das bestimmt nicht böse. Ha, aber diesmal nicht! Meine Reaktion allerdings “passiert” nicht in dem Sinne, dass auf einmal meine Emotionen, meine Wut im Speziellen, so groß wäre, dass ich gar nicht anders reagieren kann, dass “es” einfach über micht kommt. Nein, es ist eine zutiefst rationalisierte Reaktion (apropos Emotionalität und Frauen, die Kombi kann ich auch echt nicht mehr hören oder in irgendwelchen Kommentarspalten lesen, vor allem nicht von irgendwelchen schadenfreudigen, missgünstigen, hochmütigen – Überraschung, auch das alles Emotionen – Typen…), zu der ich mich heiß kalkulierend mühsam selbst bringe. Sie stützt sich auf einiges, was ich in den letzten Jahren über den Zusammenhang von Geschlecht und sozialer Ungleichheit gehört habe: Frauen tendieren dazu, ihrem sozialen Umfeld nicht unangenehm auffallen zu wollen? Scheiß drauf, was die anderen im Abteil denken, was ich denke zählt. Frauen zeigen die Tendenz, nett zu sein, damit das Gegenüber sich gut fühlt? Ich schleudere Horst entgegen, dass er mich endlich in Ruhe lassen soll. Dass mir das unangenehm ist. Dass er sich einen anderen Platz suchen soll, wenn er Unterhaltung möchte. Was er sich überhaupt bei all dem denkt? Und: dass ich mir gleich Hilfe hole, wenn das so weiter geht. Frauen tendieren dazu, sich leise und unauffällig zu verhalten? Ich werde immer lauter, so laut, bis sich die wenigen Köpfe im Abteil allesamt uns zudrehen.

Ha! Und das war’s. Das war’s wirklich. Dann ist der Horst’sche Spuk vorbei. Schlafen konnte ich zwar bis zum Schluss trotzdem nicht, aber Horst ist endlich still. Als er, ein paar Stationen vor Chemnitz, aussteigt, verabschiedet er sich höflich. Ich muss ein wenig grinsen, erinnere mich an die erzieherische Regel der positiven Verstärkung und bedanke mich dafür, dass er mich jetzt in Ruhe gelassen hat. Es fühlt sich gut an, ihm mit diesen Worten wie einem kleinen Jungen lobend auf die Schulter zu klopfen. Ob es richtig war weiß ich nicht. Aber das war auf jeden Fall die Geschichte mit Horst im Zug und der Grund, warum ich ihm fast ein bisschen dankbar bin: Widerstand gegen sexistische Übergriffe muss man (genau wie Zivilcourage übrigens) üben. Horst hat mir eine wunderbare Gelegenheit dazu beschert.

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