Dieses Jahr ist unser Sammelband “Soziologie der Parlamente” (Reihe Politische Soziologie Springer VS) erschienen, jetzt mache ich mich – gemeinsam mit Jasmin Siri – an ein neues kollektives Publikationsprojekt: Wir wollen mit einem Buch zur “Soziologie der Parteien” neue soziologische Perspektiven auf Parteien ausloten! Aktuell ist, so meinen wir, ein guter Zeitpunkt um genau das zu tun. Wie mit dem Parlamentsbuch wollen wir die Soziologie dabei ein bisschen aus der Reserve locken, denn die beschäftigt sich traditionell nur am Rande mit politischen Institutionen, und auch der Dialog mit der Politikwissenschaft fällt eher sporadisch aus. Da geht mehr, meinen wir – mal sehen, was da kommt!
Und so liest sich unser Call for Papers zum Projekt (hier auch nochmal komplett als pdf zum Download):
“Die europäischen Parteienlandschaften erfahren gegenwärtig teilweise drastische Veränderungen. Bedingt sind sie durch den vieldiskutierten Aufstieg populistischer, nationalistischer und völkischer Tendenzen, aber auch durch das Aufkommen neuer demokratischer Bewegungen. Für die klassische Parteienforschung stellen diese Entwicklungen eine Herausforderung dar. Derzeit lassen sich viele spannende Versuche beobachten, das Geschehen einzuordnen: etwa in Studien zum Rechtspopulismus, zu den sich etablierenden neuen Parteien, zum Entstehen neuer Parteitypen in Europa und den Herausforderungen der Wahlforschung. Aber eine wichtige Stimme ist in diesen Debatten zu einer der bedeutsamsten politischen Entwicklungen der Gegenwart erstaunlich leise: die Stimme der Soziologie – schon seit Jahrzehnten ist ihr Verhältnis zu den Parteien vor allem durch Desinteresse geprägt.
Mit diesem Sammelband möchten wir dagegen das Potential sichtbar machen, das in soziologischen Perspektiven auf Parteien steckt.[1] Die aktuelle politische Situation scheint uns der geeignete Zeitpunkt zu sein, um dieses Vorhaben anzugehen: Die momentan sich abzeichnenden Veränderungen sind, so die These, zumindest teilweise von so grundsätzlicher Art, dass eine Beschränkung auf die klassischen Fragestellungen der Parteienforschung allein nicht mehr ausreicht. So wichtig und interessant insbesondere die Analyse einzelner Parteien – ihres Führungspersonals, ihrer Kultur, ihrer Strategien, ihrer Wählerschaft, ihrer Entwicklungspotentiale etc. – im Verhältnis zu anderen Parteien ist, so sehr scheint sie momentan an ihre Grenzen zu stoßen. Grundsätzliche Veränderungen erfordern grundsätzliche Analysen, und der Soziologie mit ihrem breiten theoretischen und methodischen Repertoire kann es gelingen, wichtige Beiträge zur Beantwortung der Frage zu leisten: Welche gesellschaftliche Funktion erfüllen Parteien für das politische System und darüber hinaus?
Wir suchen daher nach Beiträgen, die explizit den Mehrwert einer soziologischen Analyse von Parteien offenlegen, diskutieren und am Phänomen vorführen. Wir ermutigen zur grundsätzlichen Diskussion über die gesellschaftliche Stellung politischer Parteien, die sich gerne auch jenseits der klassischen Herangehensweisen an diesen Gegenstand bewegen kann. Wir freuen uns über Texte, die einen Einblick geben, wie eine aktuelle, theoretisch und methodologisch kreative Soziologie der Parteien aussehen kann. Die Beiträge könnten sich dabei um die folgende Themen und Fragen drehen:
- Welche Bedeutung haben Parteien für die moderne, globalisierte Gesellschaft? Leisten sie einen entscheidenden Beitrag zur Integration von Gesellschaft unter komplexen Bedingungen? Welche Auswirkungen auf Parteien hat die Veränderung bzw. der Verlust der Bedeutung von Massenmedien im Zuge der digitalen Medienrevolution? Welches Verhältnis besteht zwischen Parteien und ihrer gesellschaftlichen Umwelt? Lassen sich Parteien auch jenseits ihrer Funktion als Interessenvertretung begreifen? Solche und ähnliche Fragen lassen sich beispielsweise unter Bezug auf differenzierungs-, modernisierungs-, governance-, globalisierungstheoretische Ansätze bearbeiten.
- Welche Rolle spielen Parteien als politische Organisationen? Welche Bedeutung hat es für das politische System, dass Parteien Organisationen sind? Welchen Einfluss hat die parteiliche Organisation auf politische Beteiligung? Unterscheiden sich Parteien von anderen Formen der Organisation oder nicht? Welchen Einfluss hat die Globalisierung auf die Organisation von Interessen in Parteien? Neben organisationstheoretischen Zugängen könnte man sich bei derartigen Fragestellungen vorstellen, dass die Nutzung von Netzwerktheorien und Netzwerkmethoden fruchtbar ist, die in der Parteienforschung derzeit noch selten zur Anwendung kommen.
- Welche spezifischen politischen Praktiken lassen sich in Parteien erkennen, was zeichnet sie aus? Wie verändert Parteimitgliedschaft die politische Praxis? Wie lassen sich Praktiken der politischen Rede, des politischen Auftritts und des Machtgebrauches in Parteien untersuchen und beschreiben? Wie unterscheiden sie sich von der politischen Praxis etwa in Parlamenten oder von Praktiken des Alltags? Auch zur Beantwortung solcher Fragestellungen sind viele spannende – von praxistheoretischen über pragmatistische bis zu ethnomethodologischen – Herangehensweisen denkbar.
- Wie ist das Verhältnis von Parteien und Demokratie zu denken? Von besonderer, gerade auch soziologischer Relevanz erscheint uns die Frage zu sein, ob Parteien insbesondere als demokratische Form verstanden werden müssen – oder hat die westeuropäische Parteienforschung eventuell sogar einen Demokratiebias? Wie funktionieren Parteien, die ein nicht-westeuropäisches Demokratiekonzept vertreten und was kann eine Soziologie der Parteien von diesen Fällen lernen? Konstruktivistische bzw. performative Zugänge zur Demokratietheorie erscheinen uns in diesem Zusammenhang als besonders vielversprechend.
Bei Interesse, an diesem Projekt mitzuwirken, bitten wir um Zusendung eines ausführlichen Abstracts (8000-12.000 Zeichen), der die Darlegung der Fragestellung, der methodischen und der theoretischen Herangehensweisen sowie der zentralen Ergebnisse enthält.
Deadline für die Abgabe eines Abstracts (per Mail an j.siri@lmu.de) ist der 1.12.2018. Die Abgabe für einen Aufsatz liegt im Falle der Einladung zum Beitrag am 1.6.2019.
[1] Wir schließen damit an eine Idee an, die auch dem 2018 in der gleichen Reihe erschienenen Band „Soziologie der Parlamente“ zugrunde liegt (Hg.: Brichzin, Jenni; Krichewsky, Damien; Ringel, Leopold; Schank, Jan).