Warum man gute Politik nicht an ihrem Wahrheitsgehalt erkennen kann

Hier geht es um ein Thema, das mich schon seit einiger Zeit umtreibt. Ein Thema, dem man derzeit überall dort begegnen kann, wo politisch diskutiert wird. Es geht, um damit rauszurücken: um den in der öffentlichen Debatte wie selbstverständlich hergestellten Zusammenhang zwischen Politik und Wahrheit. Ich möchte meinen Beitrag zu diesem Thema mit einer steilen These beginnen. Die gegenwärtige politische Kultur hat nämlich ein Problem (das ist noch nicht die steile These, die kommt jetzt erst). Jenes Problem politischer Kultur liegt jedoch nicht so sehr in unverbrüchlichem Blockdenken zwischen links und rechts begründet, nicht in der fehlenden Bereitschaft zur offenen politischen Debatte, ja, noch nicht einmal (hauptsächlich) in den unvermeidlichen Rufen nach allzu simplen Lösungen für komplexe gesellschaftliche Problemkonstellationen. Das schwerwiegendste Problem gegenwärtiger politischer Kultur  besteht vielmehr in der unhinterfragten Annahme, gute Politik zeichne sich dadurch aus, dass sie die Wahrheit auf ihrer Seite habe.

Die unmittelbare Verknüpfung von Politik und Wahrheit besitzt eine lange Tradition. Sie lässt sich von Platons Vorstellung des Philosophenkönigs über die Herrschaft der Wissenschaft bei Auguste Comte (der Namensgeber der Soziologie, 1798-1857, ist mir als ordentlicher Soziologin selbstverständlich vor Platon eingefallen) bis zur gegenwärtigen Sehnsucht nach der Regierung durch ExpertInnen verfolgen. Ungehemmt bricht nun im digitalen Zeitalter der Kurzschluss zwischen Politik und Wahrheit in den Foren der sozialen Netzwerke hervor, wo die politisch Unzufrieden in mal mehr, mal weniger zitierfähiger Form mit dem politischen Personal und seinem Umgang mit der Realität hadern. Der verzweifelte Schrei mäandert durch die Echokammern des Internet: “Wo ist denn die Wahrheit?” Wie stark wir – und hier ist das allen Abstand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits des politischen Spektrums überbrückende “wir” gemeint -, wie stark wir also für unser politisches Denken auf jene Verknüpfung zurückgreifen, wird nirgendwo so deutlich wie in den klugen und differenzierten journalistischen Einlassungen, die momentan genau dazu immer mal wieder zu lesen sind. So etwa der im August (genauer am 2.8.2016) in der Süddeutschen Zeitung erschienene Beitrag mit dem Titel “Krieg gegen die Wahrheit”, in dem Andreas Zielcke die These der zunehmenden Wahrheitsferne gegenwärtiger Politik diskutiert. Zielcke geht von einer “ausufernden Lügenpraxis” aus und verweist auf den amerikanischen Wahlkampf und die dort errechneten “Unwahrheitsquoten” von bis zu 84% (Ben Carson; Trump landet mit 76% auf dem zweiten Rang), auf die parolenbesetzte Auseinandersetzung im Vorfeld des Brexit-Referendums, auf  die Legitimation des Irak-Krieges durch die “Lüge von ‘Saddams Massenvernichtungswaffen'”. Vor allem hat er den Aufschwung nationalistischer Bewegungen und ihre “uneigennützigen Lügen, die Lügen zum Schutz und Wohl der Nation” im Blick, mit denen man die “auf allen Kanälen hereindringende internationalisierte Welt zurückerobern will”. Alle diese Phänomene scheinen als Beleg zu funktionieren für Zielckes Ausgangsthese: dass wir derzeit Zeugen eben eines politischen “Krieges gegen die Wahrheit” sind.

Doch immer wieder blitzen in Zielckes Text auch Aspekte auf, die das Fundament dieser These erschüttern. Das erste Mal geschieht dies, als er auf die Fragwürdigkeit des  “Faktenzooms” hinweist, ein von der Kölner Journalistenschule angewandtes Instrument zur Messung der Wahrheitstreue von PolitikerInnen – wie hier darüber entschieden wird, was als wahr und was als falsch zu gelten hat, scheint stark diskussionsbedürftig zu sein. Auch seine Einschätzung des “überaus düsteren Bildes von Amerika”, das Donald Trump zeichne, kann sich nicht auf das eindeutige Urteil festlegen, jenes Bild sei falsch – stattdessen verwendet Zielcke die Begriffe “verzerrt, überzeichnet, manipulativ und unwahr”. Am deutlichsten gerät seine These in einem kurzen Einschub ins Wanken, in dem er in einem Satz die erkenntnistheoretische Einsicht erwähnt, dass “selbst ‘reine’ Tatsachenaussagen nicht frei von subjektiven Vor-Annahmen und Interpretationen sind”. Jene Einsicht entfaltet jedoch in der weiteren Argumentation keinen erkennbaren Einfluss mehr – Zielcke nutzt den Begriff, als hätte er ihn nicht soeben als grundsätzlich problematisch und uneindeutig ausgewiesen, er zieht daraus keinerlei Konsequenz.

Dabei hätte er sich in dieser Richtung prominenter Referenzen bedienen können. So etwa Max Horkeimer und Theodor W. Adorno, die in ihrem enorm einflussreichen Text zur “Dialektik der Aufklärung” festhalten: “Jede Wahrnehmung enthält bewußtlos begriffliche, wie jedes Urteil unaufgehellt phänomenalistische Elemente. Weil also zur Wahrheit Einbildungskraft gehört, kann es dem an dieser [der Einbildungskraft nämlich] Beschädigten stets vorkommen, als ob die Wahrheit phantastisch und seine Illusion die Wahrheit sei.” Horkheimers und Adornos Analyse der kapitalistischen Gegenwart als falscher Gesellschaft macht klar: man kann sich (ganz und gar positivistisch) detailgetreu an die Fakten halten – und doch auf Seiten der Unwahrheit stehen. In diesem Licht erscheint auch ein postulierter “war on reality” als nicht ganz so absurd, wie er in Zielckes Text erscheint: die gemeinte, zu bekämpfende “Realität” ist der durch “Fakten”, durch Statistiken, durch sonstige selektive Messinstrumente umrissene gesellschaftliche Status quo. Dieser Status quo bildet jedoch nicht die Wahrheit ab, er ist lediglich eine der – Dank der menschlichen Plastizität (siehe Helmut Plessner, aber darauf will ich jetzt nicht auch noch eingehen) – vielen Möglichkeiten der Ausformungen des menschlichen Zusammenlebens. Progressive (und wie wir gegenwärtig sehen können: auch regressive) gesellschaftliche Kräfte mussten sich schon immer gegen die Macht des Status quo und seine konservative Suggestion behaupten: dass die gegenwärtige die einzige, zumindest aber die einzig sinnvolle Weise sei, die Welt zu ordnen.

Und erst damit kommen wir zum Kern der Sache. Der zentrale Bezugspunkt von Politik ist nämlich gerade nicht “Wahrheit”. Mit Pierre Bourdieu kann man vielmehr erkennen, dass gerade der Verlust eindeutiger Wahrheiten überhaupt die Bedingung der Möglichkeit von Politik ist. Politik beginnt, so Bourdieu, „eigentlich erst mit der Aufkündigung [des] für die ursprüngliche Doxa [also der unhinterfragten Weltordnung] charakteristischen unausgesprochenen Vertrags über die Bejahung der bestehenden Ordnung […]“. Erst also, wenn die Veränderlichkeit der Formen des Zusammenlebens am Horizont des Möglichen aufscheint, treten politische Auseinandersetzungen auf die Bildfläche – bei Bourdieu verstanden als mobilisierende Erzeugung alternativer Weltbilder. Die Leistung von Politik ist es damit, den Menschen Perspektiven auf die Welt anzubieten, die jene in klarerem, in anderem, in besserem Licht erscheinen lassen, die also unmittelbar in das je eigene Deutungssystem übernommen werden können und so das bisherige Weltbild verändern. “Gute” Politik (im Sinne von handwerklich gut) zeichnet sich dann durch die Erzeugung evidenter, also unmittelbar einsichtsfähiger Deutungen der Beschaffenheit der Welt aus, das vielbescholtene politische Werkzeug Rhetorik lässt sich entsprechend verstehen als die Lehre von der evidenten Rede (Werbeblock: über die Bedeutung von Evidenz mehr in meinem ersten Buch…). Indem aber in der gegenwärtigen Debatte Urteile über Politikangebote hauptsächlich mithilfe der Kategorien “wahr” und “falsch” gefällt werden, wird Politik darauf reduziert, Instrument zu sein; Mittel zum Zweck also, um die eine, die wahre, die endgültige Weltordnung einzusetzen – womit man sich dann endlich dieses “schmutzigen Geschäfts” Politik entledigen könnte. Die Erkenntnis, dass Politik (mit Arendt und etwas pathetisch klingend formuliert) die menschliche Freiheit markiert, die Formen des Zusammenlebens selbst beeinflussen zu können, versinkt damit in der Düsternis der Empörung über identifizierte Lügen. Wollte man überspitzt formulieren, so könnte man sagen: mit dem Kurzschluss von Politik und Wahrheit betreibt man die Abschaffung von Politik.

Vielleicht ein kurzes Beispiel. Ann Coulter, konservative US-amerikanische Publizistin bekannt für ihre extrem kontroversen Diskussionsbeiträge, war in einer Show des Fernsehsenders FOX zu Gast um die Thesen über alleinerziehende Mütter zu diskutieren, die sie in ihrem neuen Buch (das bezeichnenderweise den Titel “Demonic” trägt) aufwirft. Ihre Kernaussage: alleinerziehende Mütter sollten zum Wohle ihrer Kinder selbige zur Adoption freigeben. Sie dominiert die gesamte Diskussion mit ihrem Beharren auf statistischen “Fakten”, laut denen Kinder von alleinerziehenden Müttern mit viel höhrer Wahrscheinlichkeit zu “juvenile delinquents”, “teenage runaways”, “murderers” und “rapists” würden. Ihr Gegenüber rennt vergeblich gegen sie an, weshalb auch in der Kommentarspalte zum entsprechenden Video auf youtube der Tenor dominiert: “liberals just can’t handle the truth.” Dass Statistik nicht die Wahrheit abbildet, darauf kommt niemand. Dass, beispielsweise, noch vor fünfzig Jahren Frauen – statistisch gesehen – in nur sehr geringem Maße in den Genuss höherer Bildung gekommen sind aber trotzdem zu keiner Zeit dümmer waren als Männer, erwähnt keiner. Es wird nicht mehr über die in politischen Ideen transportierten Weltbilder und die Frage diskutiert, was diese für Folgen haben und ob jene wünschenswert sind. Sondern man macht sich zu Sklaven der vermeintlich die Wahrheit abbildenden “Fakten”. Dies gilt übrigens derzeit für progressive ebenso wie für regressive politische Richtungen, beide verhalten sich hier ganz symmetrisch: indem sie immer nur die Lüge zu entlarven suchen vergessen sie, Politik zu treiben. Das Problem an der von Zielcke kritisierten Idee der (vor allem mit der Ära Bush jun. in Verbindung gebrachten) “Post-Realitäts-Politik” ist damit nicht, dass sie Gesellschaft unabhängig denken möchte vom Status quo – wenn sie das nicht täte, wäre sie keine Politik. Die Hybris liegt in dem Gedanken, Politik könne die Welt nach ihrem Willen formen. Mit der politischen Transformation von Weltbildern lässt sich Einfluss nehmen – steuern kann man die Welt nicht.

Aber die Konsequenz aus all dem ist natürlich nicht, dass jeder sagen können sollte was er will: Ebenso, wie man etwa in persönlichen Beziehungen erwartet, dass das Gegenüber ehrlich (im Sinne vielleicht von “ereignistreu”) ist – also nicht erzählt, dass man dies oder jenes gemacht habe, obwohl man es gar nicht gemacht hat -, so gilt dies auch für Politik. Ehrlichkeit ist eine moralische Grundanforderung, und wenn ein Politiker sie für vollständig disponibel hält (etwa nach Maßgabe machtpolitischer Erfordernisse), so sollte man ernsthaft über das Weltbild diskutieren, das er damit wiederum transportiert. Doch Beziehungen bestimmen sich, ebenso wie Politik, nicht über den in ihnen waltenden Grad an Ehrlichkeit – eher sind persönliche Beziehungen über so etwas wie “Innigkeit” gekennzeichnet. Politik hingegen kennzeichnet sich durch ihre Leistung der aktiven Ausdeutung von Welt und den Diskurs darüber, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen. Ob dadurch das erreichbar wird, was Horkheimer und Adorno als Wahrheit begriffen haben: nämlich der utopisch vorgestellte Zustand verwirklichter menschlicher Aufklärung, sei dahingestellt. Durch Engführung der Diskussion auf Faktenforderungen, Rationalitätserwartungen, Lügenvorwürfe und statistische Wahrheit ist er es auf jeden Fall nicht.

Ein Gedanke zu „Warum man gute Politik nicht an ihrem Wahrheitsgehalt erkennen kann

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