Ja, es gibt sie, die spannende ethnografische Forschung zu Parlamenten! Diejenige, die sich nicht allein mit der Betrachtung formaler Prozesse, quantitativer Zusammensetzungen oder Eigennutzpostulaten zufrieden gibt. Die sich vielmehr dafür interessiert, wie Politik im komplexen institutionellen Arrangement eines Parlaments möglich ist und wie parlamentarische Praxis konkret aussieht. Das hat mir ein Forschungsworkshop im schottischen Edinburgh klar gemacht, den ich vergangene Woche besucht habe – glücklich darüber, dass es da echt einen Haufen Leute gibt, die sich für genau das Gleiche interessieren wie ich! Das Thema des Workshops lautete dann auch passenderweise: “Ethnographies of Legislatures”.
Was haben wir nicht alles für Facetten parlamentarischen Geschehens diskutiert:
die Bedeutung der räumlichen (Christian Rosen), der kollektiven (Jonathan Chibois), der kommunikativen (Sandrine Roginsky) Interaktionsordnung. Den Zusammenhang von Wissen und Macht (Marc Geddes), die Auswirkungen von Geschlecht (Sarah Childs) und Kleidung (Jean-Pascal Daloz). Historisch gewachsene Muster parlamentarischer Praxis (Zahir Ahmed) und Möglichkeiten der Intervention in parlamentarische Traditionen (Greg Power). Außerdem haben wir natürlich auch einen reflexiven Blick geworfen auf die Logik ethnografischer Parlamentsforschung (Emma Crewe, Shirin Rai). Sehr schön hat das am Schluss Marc Geddes (gemeinsam mit Rod Rhodes Organisator der Tagung) zusammengefasst. Fünf Kernfragen haben sich demnach durch viele der Beiträge gezogen:
- What constitutes politics?
- How is parliament a normal workplace?
- What is the nature of representations?
- What is the MPs’ motivation to do politics?
- What can ethnography offer?
Alle diese Fragen finde ich persönlich sehr spannend (für mich selbst habe ich ja auch schon in meiner Doktorarbeit zumindest vorläufige Antworten auf diese Fragen gefunden), gerade aber über die fünfte Frage habe ich während des Workshops wieder mehrmals nachgedacht. Wie auch immer man genau die Leistung der Parlamentsethnographie bestimmt, auffällig ist in jedem Fall, dass in den entsprechenden Studien viel schwächer die Tendenz des Mainstreams des öffentlichen Diskurses zur grundsätzlichen PolitikerInnenskepsis (oder härter gesagt: des PolitikerInnen-Bashings) zu erkennen ist. Ich denke, das kann eine eine große Chance für die Politikforschung sein.
Für mich selbst war der Workshop in vielerlei Hinsicht erhellend. Die Internationalität des TeilnehmerInnenkreises (und entsprechend auch der Forschungsgegenstände) zum Beispiel erweitert die Perspektive schon nochmal deutlich (setzt aber auch ein wenig unter Druck – wie soll man denn das auch noch alles in den eigenen Forschungen mitberücksichtigen?!). Außerdem ist es natürlich toll, wenn einem an der Uni Edinburgh selbst auf dem Klo ein edler Empfang bereitet wird (siehe Foto)… Wird mir auf jeden Fall in Erinnerung bleiben!