Eine literarisch-ethnografische Erzählung nach einer wahren Begebenheit auf der Reise vom Soziologiekongress nach Chemnitz.
Es ist Nacht, als der Zug uns am Ende unserer Reise in die steinerne Wirklichkeit von Chemnitz entlässt. Tiefmüde machen wir uns auf den Weg; an einer kleinen Kneipe vorbei, unter stählernen Brücken hindurch, die gepflasterten Straßen kreuzend. Das Bett steht uns als Verheißung vor Augen. Der Rollkoffer klappert noch den Takt der Erinnerungen an Göttingen hinter uns her, doch die Magie des Kongresses ist verflogen. Diese Reise scheint nicht Transit, sie scheint Auftauchen gewesen zu sein, Auftauchen aus einer anderen Welt.
Denn der Kongress ist ein magischer Ort. Das klingt nicht immer so, wenn Soziologinnen und Soziologen über ihn sprechen, unser aller Max (der Weber) würde sowieso etwas ganz anderes sagen. Aber im Grunde ist es eben doch ein magischer Ort. Hier lässt sich die Welt mit dem Willen auseinandernehmen, in Einflussfaktoren, Dimensionen, Determinanten zerlegen, auf Mechanismen, Ursachen und Beziehungen zurückführen. Und setzt man sie dann wieder zusammen, so hat sie ihre Gestalt verändert. Nicht immer vielleicht, aber von welcher Form der Magie hätte man schon gehört, die immer wirkt.1 Noch im Rausch des erlebten soziologischen Zaubers brechen wir auf, im Kopf hallen die letzten Vorträge nach. Populismus, Angst, Rassismus, Demokratiebilder, kulturelle Schließung, Bestialisierung, Anti-Politik. Darum ging es, einmal mehr; und die ein oder anderen mögen beim Blick ins Programm schon innerlich die Augen verdreht haben. Aber es waren sehr schöne Vorträge, klar und geordnet, differenziert und überzeugend vorgetragen, Erkenntnismomente enthaltend, die Nachfragen konstruktiv. Das Gehörte also hallt nach, während wir unsere Reise antreten. Wir steigen in den Zug.
Es ist ein Regionalzug, wie tausende andere. Industrieblau und PVC-nichtig. Ein Ort, an dem sich der Lauf der Geschichte nur im Wechsel der Sitzbezüge niederschlägt. Der selbst keine Geschichte ansetzt, stattdessen einfach dreckig wird. Nicht viele sind es, die sich jetzt noch auf den Weg in Richtung Sachsen machen, nur hier und dort unterbrechen Köpfe die eintönige Ordnung der Sitzreihen. Nahtlos fügen wir uns ein in die dumpfe, erschöpfte Stimmung des Abends und lassen uns in zwei freie Sitze fallen. Die Gedanken schlaff, die Körper schwer. Der Zug fährt an.
Rufe zerschneiden die Trübheit. Ein Herr kündigt sein Nahen schon von fern an, und als er schließlich auch unser Abteil mit seiner Präsenz flutet, da brauchen wir ein bisschen, bis wir verstehen, was er da eigentlich ruft. Grinsend, fast schelmisch bahnt er sich seinen Weg mit raschem Schritt durch den engen Gang. Der große Koffer, mühelos in einer Hand getragen, knallt dabei links und rechts gegen die Sitzreihen, als gälte es, dem Zug eine Bresche zu schlagen. Der Herr selbst, mehr jung als alt, helle Haare, T-Shirt und kurze Hose mit bunten Mustern, durchaus groß und durchaus muskulös, wirkt mehr wie ein verblasster Sonnyboy als ein Verrückter. Denn trotz des geübten Soziologenseins ist das die Kategorie, in die wir den laut Rufenden, die gesellschaftlichen Normen offen Missachtenden, zunächst rasch einordnen, alternativ als Betrunkenen. Als er dann aber an unseren Sitzen vorbeikommt verstehen wir endlich, was er uns mitteilen möchte: „Merkel muss weg.“
Der Herr hält sich nicht auf, rasch schreitet er voran, seine Botschaft laut verkündend. Die Suche nach einem Sitzplatz ist seine Sache nicht, davon hätte es in unserem Abteil genug gegeben. Er ist zur Verkündigung gekommen. Wir hören ihn noch, als die Glastür sich schon wieder hinter ihm schließt. Doch bald wird klar, der Zug selbst bremst ihn aus: Wir sitzen im letzten Wagen, nun steht er mit seiner Botschaft, eingeklemmt zwischen den Ausgängen. Aber die paar Sitzgruppen, die es manchmal im hintersten Zugzipfel gibt, die will er doch noch erreichen, doch noch mitreißen. Zumindest stimmlich bereitet ihm das keine Mühe: „Wir lassen uns doch das Schweinefleisch nicht von unserem Brot nehmen!“ Mit der Hand verhindert er, dass sich die Glastür vor ihm schließt.
Das Rufen hält an, eine Dame steht auf. Mehr jung als alt, eher klein als groß („Hey, europäischer Durchschnitt!“). Sie tritt durch die Glastüre auf der gegenüberliegenden Seite, dem Herrn hinterher. Und fragt ihn, was er denn da mache. Der Herr, verdutzt, wendet sich ihr zu. Ist er erfreut, dass jemand mit ihm spricht? Verärgert ist er nicht. Hofft er, jemanden bekehren zu können? Wahrscheinlich kann er die Situation schlicht nicht recht einordnen. Zumindest hat er eine tröstliche Vermutung: „Sind Sie Gutmensch? Sie sind Gutmensch, oder?“ Da steht also eine kleine hellhaarige, hellhäutige Dame vor ihm und will mit ihm reden, er überragt sie deutlich, nach Breite wie nach Länge. Eine Bedrohung ist sie in jedem Fall nicht. Also beginnt er so etwas wie ein Gespräch.
Er sei kein Rassist, er sei kein Nazi! Ehrlich, er sei kein Nazi! Hand drauf! (Viermal, wenn nicht mehr, wird die Dame ihm im Verlauf des Austauschs die Hand schütteln. An die Wade, wie gewünscht, fasst sie ihm nicht.) Das könne man schon daran erkennen, dass er Hasch rauche. Kein Nazi, Nazis rauchen doch kein Hasch! (Wir vermuten zwischenzeitlich, der Konsum von Hasch könnte sich doch besser zur Erklärung der vorliegenden Situation eignen, der Inkohärenz seiner Sätze und Gedanken, denn als Definitionsmerkmal eines Nationalsozialisten. Doch rasch geht es weiter.) Er sei also kein Nazi, aber im Kindergarten dürften die Kinder kein Schweinefleisch mehr essen! Er sagt es, als würde dies allein den Niedergang des Abendlandes beweisen. Ob die Dame Kinder habe? Er habe ein Kind – zum Beleg seiner Aussage hebt er sein T-Shirt an und zeigt ihr eine kleine Tätowierung eines Namens auf seiner Brust, über dem Herzen. Merkel müsse weg, sonst sei bald alles verloren. Es ist ihm ernst damit, sein Körper kann auch das bezeugen: Auf der gesamten Länge seiner Wade prangt eine weitere Tätowierung, um ein Vielfaches größer als diejenige des Kindernamens. „Merkel muss weg“, in geschwungener Schrift. Er wird sie, wenn Angela Merkel tatsächlich einmal nicht mehr Kanzlerin sein sollte, vermutlich als stolze Narbe tragen, Veteran seiner eigenen Schlacht. Die Tätowierung ist ihm Argument, er fordert die Dame auf, seine Worte auch haptisch zu begreifen, gerne dürfe sie die Wade befühlen. Die Dame geht nicht darauf ein.
Ob sie denn Deutsche sei? Ob sie mit Sicherheit sagen könne, dass sie reine Deutsche sei? Die Dame lehnt das Bekenntnis ab, es tue nichts zur Sache. Zum ersten Mal blitzt Aggressivität in seinem Gesicht auf, die Muskeln spannen sich, künden von dem, was sein könnte: Er werde nur weiter mit ihr reden, wenn sie sofort dafür einstehe, reine Deutsche zu sein! Mehrfach sagt er es, deutsch, deutsch, deutsch, das inkohärente Gewehrfeuer seiner Worte. Hinter den beiden, nur durch die Glastür von dem seltsamen Paar getrennt, sitzen immer noch Leute, sie können verfolgen, was vor sich geht. Sie tun es wohl auch, können es nicht verhindern, doch sie äußern sich nicht. Der Herr selbst holt die Reisenden in die Situation herein, wendet sich an sie als Zeugen. Damit sich die Tür, mit einer Bewegung geöffnet, nicht wieder schließt, hält er sie wieder mit der Hand zurück. Die Dame wendet ein, dass das jetzt aber doch durchaus rassistisch sei: Deutschsein als Gesprächsvoraussetzung. Hat er verstanden was sie meint, hat er es nicht? Auf dem Deutschsein in jedem Fall beharrt er nicht weiter. Als die Dame ihn fragt, warum er sie Gutmensch nennen dürfe, sie ihn aber nicht Nazi, lenkt er ein, entschuldigt sich gar – aber lange hält er die Abstinenz vom tröstlichen Mantra nicht durch. „Sie sind also doch Gutmensch!“
Die Flüchtlinge, ob die Dame denn eigentlich wisse, wer da nach Deutschland komme? Er beugt sich über sie, ist ja deutlich größer, spannt seinen Bizeps, als er ihr die Anatomie der Flüchtlinge erklärt: Das seien solche Männer (er deutet die gewaltigen Umfänge mit den Händen an), alles Männer, groß und breit. Alles Kämpfer! Am eigenen Körper will er der Dame begreiflich machen, will endlich Verständnis erwirken dafür, welche Bedrohung die Flüchtlinge auch für sie – ja für sie! – darstellten. Das Paradox, dass er selbst – groß und breit – gerade diejenige Bedrohung für die Dame erzeugt, vor der er warnt, das merkt er nicht. Dass er derjenige sein könnte, der Angst auslöst, mehr Angst auslöst sogar als die Geflüchteten, es kommt ihm nicht in den Sinn. An den starken Körpern der fiktiven Kämpfer-Flüchtlinge kann der Herr ablesen, dass ihre Armut, dass ihre Flucht eine Lüge ist. Der Körper, immer wieder – er scheint ihm Anker zu sein, in einer Welt voll Unbegreiflichem.
Wie lange dauert dieser Austausch? Fünf Minuten, zehn? Erkenntnisfolgen gibt es keine, das wusste von Anfang an, wer die Szene beobachtet. Auch die Dame lässt sich nicht bekehren, ihre Ansichten sind fest wie die seinen, wenn sie sich auch in sonst nichts gleichen. Sie bricht das Gespräch schließlich ab, setzt sich wieder an ihren Platz. Aber hat es sich nicht doch gelohnt? Hilft es nicht, dass im öffentlichen Raum nun nicht mehr unwidersprochen steht, was er gesagt hat?
Unwidersprochen stehen seine Worte nicht. Aber Widerspruch erfährt der Herr sonst nirgends, wir haben ihn zumindest nicht erkannt. Reaktionen ja, aber keinen Widerspruch. Die erste Reaktion verdankt sich einer Haltestelle, ein Zugbegleiter betritt den kleinen Zwischenraum, der kaum drei Leute fasst, ohne dass die Nähe peinlich wird. Ein älterer Herr, freundlich und sympathisch, er wird uns später im Vorbeigehen herzlich eine gute Reise wünschen. Die Situation wirkt seltsam auf ihn, man merkt es ihm an: Ein schwadronierender Herr, eine zurückhaltende Dame, das ungleiche Paar. Gut gelaunt stellt der Herr, der nicht Rassist genannt werden möchte, dem Zugbegleiter die Dame vor: Er sehe hier einen Gutmenschen vor sich! Als die Dame darauf erwidert, dass sie das Schlechte im Wunsch, Gutes zu tun, schlicht nicht erkennen könne, findet der Zugbegleiter in seine Sprache zurück: Dann solle sie aber doch Gutes in Syrien und im Libanon tun und nicht für die reichen Menschen, die nach Deutschland kämen! So halte er es jedenfalls.
Die zweite Reaktion zeigt sich, als der Herr einmal mehr in die Autonomie der Glastüre eingreift, um die dahinter sitzenden Reisenden auf seine Seite zu ziehen. Schließlich dreht sich eine Reisende in ihrem Sitz um: Ob sie nicht endlich aufhören könnten? „Und zwar beide?!“ Ob sie nicht endlich woanders hingehen könnten, ins davor liegende Abteil vielleicht? „Beide!“ Sie macht sehr unmissverständlich, dass sie keinen Unterschied zwischen beiden macht – zwischen dem Herrn, der sie schon zuvor lautstark angesprochen hatte, der sich fortwährend mit mechanischer Gewalt Zugang zu ihrem Abteil verschafft. Und der Dame, die ihn vom lautstarken Verbreiten seiner rassistisch motivierten Menschenfeindlichkeit abhalten möchte. Warum macht sie keinen Unterschied? Man kann nur spekulieren. Aber eine Antwort könnte sein, dass sie sich belästigt fühlt. Nicht von einer der beiden Sichtweisen auf die Welt, sondern davon, dass hier überhaupt Politisches an sie herangetragen wird. Es ist ihr bloße Zumutung.
Die dritte Reaktion zeigt sich, nachdem die Episode schon geendet hat, nachdem der Herr mit einem weiteren lauten Ruf verschwunden ist: „Seid nicht dumm, seid kein Bombenfutter!“. Schon raffen wir rasch unser Gepäck zusammen, der nächste Halt ist unserer. Als wir stehen, zieht ein junger Herr, ein paar Sitze hinter uns hat er die Fahrt über gesessen, mit den Augen unsere Aufmerksamkeit auf sich. Er sieht nett aus, und an dem blassen Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen lässt sich ablesen: Auch er fand die Episode fürchterlich. Wir sind froh darüber, zu wissen, nicht allein zu sein, gibt Halt. Doch seine Arme signalisieren noch etwas anderes, nicht nur Bestürzung: die Arme, die hochgezogenen Schultern drücken Hilflosigkeit aus. Für einen schnellen Wortwechsel reicht es noch, kurz unterhalten wir uns: Was man denn machen könne, er wisse nicht, was man machen könne. Vor Jahren hätte man etwas tun können, im Osten, in den neuen Bundesländern, hätte investieren müssen, in Jugendarbeit zum Beispiel. Aber jetzt? Was könne man jetzt noch tun? Dann müssen wir aussteigen.
Der stille Unterstützer, die von Politik Belästigte, der resignierte Demokrat. Der Wortwechsel mit dem eigentümlich tätowierten Menschenfeind war laut und aufreibend. Ein Gefecht mit Worten, und wie bei einem Gefecht mit Waffen konnte man sich seinem Sog kaum entziehen: Zu welchem Ende findet es? Diesmal: Zu einem Ende ohne Ende, ohne Streit und ohne Lösung. Wie ein verschütteter Putzeimer mit Dreckwasser, das niemand wegwischt. Aber auf den letzten Metern, dort, im stillen Mondlicht der Chemnitzer Nacht, da dämmert es uns: Vielleicht sind es die Leisen und Stillen, die Nebenfiguren dieser Episode, mehr als der Laute und Schrille, die uns noch beschäftigen werden. Derjenige, der im Stillen seine Bedenken hegt. Diejenige, der die notwendige Gemeinsamkeit der Welt nur Last ist. Und derjenige, der sich vom Fatalismus der Anderen affizieren lässt, ihnen nun selbst nur noch mit Fatalismus begegnen kann. Und auf einmal ist nichts mehr so, wie es noch war, ein paar Stunden zuvor auf dem Kongress: klar und geordnet, differenziert und überzeugend. Die Welt hat uns wieder, alle Soziologinnen und Soziologen sind aus ihren Zügen getröpfelt, nach und nach, mit jeder Haltestelle mehr. Der Zauber ist vorüber. Der Zug fährt weiter.
1Manchmal, für einen Moment, scheinen sogar die Regeln der Menschenwelt gerade dort ihre Kraft zu verlieren, wo sich doch alles um sie dreht: Wenn es etwa Andreas Wimmer im Vortrag gelingt, allein durch das Sprechen über eine Sache (Flanellhemden) diese Sache selbst herbeizurufen (den Herrn im Flanellhemd nämlich, der just in diesem Moment in den Saal schlurft und das Publikum in einen Zustand glückseliger Erheiterung versetzt). Wenn die Dinge sich verkehren, wenn oben wird was unten war, als die junge, vermutlich eher unbekannte Dame den älteren und ohne Zweifel sehr bekannten Herren (namens Andrew Abbott) durch die autoritativ vorgetragene Aufforderung aus dem Konzept bringt (aber nur kurz), sich doch jetzt aber bitte mal um Geschwindigkeit zu bemühen (wenn man ihr das Durchbrechen dieser gesellschaftlichen Grenze auch eher für einen anderen Moment gewünscht hätte). Wenn Sina Farzin vor den staunenden Augen aller die Kunst der Transsubstantiation vorführt und aus Unterschiedlichem Gleiches macht (Sitzen wird zu Stehen). Wenn das, was wie ein Fluch klingt, gerichtet gegen eine kleine Gruppe Abtrünniger und doch die altehrwürdige Gilde quantitativer Magier und Magierinnen treffend, durch den Zauber der Differenzierungen, Abwägungen, Einordnungen und Widerworte zumindest momentan an Gewalt verliert. Wenn schließlich manche aus jener Gilde selbst, auf einmal und ganz unerwartet, ihre unerhörte Kraft entdecken, mit einfachen Sätzen (über Luther und Hechte im Karpfenteich) gänzlich unkalkuliert politische Wirkungsmacht zu entfalten. Ja, es ist wirklich magisch.