Programm zu DFG-Projektworkshop
Termin: 8. / 9. Juli 2022
Ort: Universität der Bundeswehr München
Organisation: Dr. Jenni Brichzin (Universität der Bundeswehr München) | Felix Kronau (Universität der Bundeswehr München) | Jakob Zey (Universität der Bundeswehr München)
Impulspapier:
Die Gegenwart ringt mit einer „Wahrheitskrise“ (Pörksen 2019: 24ff.), diese Diagnose scheint sich etabliert zu haben. Die Trump’sche Präsidentschaft gilt vielen als Kristallisationspunkt jener Krise. Diese setzt sich während der Corona-Pandemie – mit ihrer Konjunktur von Wissenschaftsskepsis und Verschwörungstheorie (z.B. Butter 2018; vgl. auch Amlinger/Nachtwey 2021) – nahtlos fort. In dieser Situation sind die Sozialwissenschaften im öffentlichen Diskurs durchaus gefragt:[1] zur Einordnung des Geschehens, für ein paar kritisch mahnende Töne, vielleicht auch mal in Sachen vorsichtiger Prognostik. Solche publizistische Geschäftigkeit verdeckt allerdings, dass auch die Sozialwissenschaften selbst von jenem Ringen um das gesellschaftliche Verhältnis zu Wahrheit nicht unberührt bleiben. Haben wir es nicht nur mit einer gesellschaftlichen Wahrheitskrise, sondern auch mit einer sozialwissenschaftlichen Krise der Theorie zu tun?
Klar ist jedenfalls: Es gibt viele Stimmen, die sozialwissenschaftliche Theorie für mindestens mitverantwortlich halten, wenn es um die Frage nach den Ursachen für das Heraufziehen des sogenannten ‚postfaktischen Zeitalters‘ geht (z.B. McIntyre 2018: 123ff.; Gabriel 2020; Pluckrose/Lindsay 2020; vgl. auch Latour 2004). Verantwortlich gemacht wird dabei natürlich nicht sozialwissenschaftliche Theorie ‚an sich‘, aber doch eine bestimmte Richtung der Theoriebildung, die es in der jüngeren Vergangenheit tatsächlich zu erheblicher Dominanz gebracht hat (vgl. z.B. Boghossian 2006). Gemeint sind die häufig als ‚postmodern‘ bezeichneten Denkansätze, die sich adäquater wohl als konstruktivistisch bzw. post-fundamentalistisch, oder mit Richard Rorty (1980: 721) als „anti-essenzialistisch“ verstehen lassen. Diese Ansätze also stehen unter Verdacht, wahrheitszersetzende (und damit in den Augen einiger Kritiker:innen zugleich demokratiezersetzende) Wirkung zu entfalten. Denn ihnen geht es im Kern gerade nicht um die eindeutige und möglichst universale Bestimmung von Welt. Im Gegenteil: ihr Bezugsproblem ist die (menschliche) Tendenz zur Festschreibung von Wirklichkeit als universale Wahrheit. Dementsprechend zeichnen sich anti-essenzialistische Ansätze durch eine konstitutive Skepsis gegenüber allen Ansprüchen auf absolute und eindeutige Geltung aus (z.B. Foucault 1990). Genau hierin erkennen ihre Kritiker:innen das Problem: Die derart universale Skepsis habe die Legitimation von Wissenschaft untergraben, die Verbreitung einer anti-essenzialistischen Haltung habe die freiheitliche Gesellschaft der normativen Beliebigkeit ausgeliefert und sie im Angesicht ihrer eigenen Bedrohung konzeptionell wehrlos gemacht. Jahrzehntealte Befürchtungen scheinen im Kontext von Rechtspopulismus und Corona-Leugnung Realität geworden zu sein (vgl. z.B. Habermas 1985: 144; Taylor 1984).
Demgegenüber macht sich eine neue Konjunktur der Vereindeutigung breit (vgl. Bauer 2018; Brichzin 2019; Flatscher/Seitz 2018: 15), und zwar sowohl auf der Ebene öffentlicher (vgl. Farkas/Schou 2020: 93) als auch (zumindest, wie mir scheint, in wahrnehmbaren Anfängen) auf der Ebene wissenschaftlicher Diskurse. Die öffentliche Reaktion auf ‚alternative Fakten‘ und die Infragestellung wissenschaftlicher Erkenntnisse besteht nämlich häufig gerade nicht darin, solchen Tendenzen nun durch besonders genaue, differenzierte und die Umstände abwägende Argumentation zu begegnen. Vielmehr sollen eindeutige Standpunkte markiert und unhintergehbare Wahrheiten behauptet werden, eine „Epistemisierung des Politischen“ (Bogner 2021) ist zu beobachten. Dies geschieht mithin in völliger Überzeugung, die Dummheit der anderen konstatieren zu können. Wissenschaftlich äußert sich dieser wiedererwachte Wille zu ‚positivem Wissen‘ in vehementen Abgesängen auf anti-essenzialistisches Denken (vgl. bereits Sokal/Bricmont 1999; vgl. Bratton 2021) und in Rufen nach einem neuen Realismus bzw. selbstbewussten Rationalismus (Gabriel 2020).
Doch die alte Kritik an der potentiell problematischen – nämlich verdinglichenden bzw. totalisierenden – gesellschaftlichen Wirkung positivistisch-rationalistischer Denktraditionen (z.B. Lyotard 1984; Foucault 2019; Horkheimer/Adorno 1988) hat auch unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen noch nichts an Kraft verloren (wenn es etwa um die Kritik ökonomischen Denkens geht; vgl. z.B. Beckert 2012). Ihr tritt nun allerdings öffentlichkeitswirksam eine komplementäre Kritik an anti-essenzialistischen Denkrichtungen und deren potentiell problematischen Nebenfolgen gegenüber. Auf diesem Wege wird ein potentieller Zusammenhang sichtbar zwischen einer auf theoretischer Ebene systematisch kultivierten Geltungsskepsis und der Geltungskrise einer Gesellschaft, der ihre fehlende Souveränität im Umgang mit ‚alternativen Fakten‘ zum Problem wird. Im Raum steht also die These: Es bestünde ein (nicht intendiertes) Resonanzverhältnis zwischen einer progressiv gemeinten Denkweise und einer regressiven gesellschaftlichen Entwicklung. Man muss in derartige Kritik nicht einstimmen, um dennoch für den Umstand sensibilisiert zu werden, dass wohl auch anti-essenzialistisches (ähnlich wie positivistisches) Denken nicht frei sein dürfte von problematischen gesellschaftlichen Nebenfolgen. Beispielsweise kann es eine konsequent anti-essenzialistische Haltung erschweren, spezifische gesellschaftlich-institutionelle Errungenschaften (von der Wissenschaft bis zum demokratischen System) aktiv zu verteidigen – und damit auch die Bedingungen der Möglichkeit anti-essenzialistischen Denkens selbst.
Wie müsste sozialwissenschaftliche Theoriebildung in einer von Wahrheitskrisen geplagten Gesellschaft aussehen? Um diese Frage dreht sich der Workshop. Spannend wird sie, weil das Wirklichkeitsverhältnis in der Gegenwart eben nicht nur von einer, sondern von zwei Seiten her bedroht ist: Bewegungen von ‚Querdenkern‘ oder Rechtspopulistinnen werden demnach zum Risiko demokratischer Gesellschaften nicht nur, weil sie wie selbstverständlich faktisch Falsches neben faktisch Richtigen stellen. Sondern vielmehr, weil sie dies zugleich in einer Eindeutigkeit behauptenden Art und Weise tun, die am rationalen Bestimmungswillen der Wissensgesellschaft geschult ist. Epistemische Praktiken der Relativierung und der Positivierung, wie sie mitunter theoretisch kultiviert werden, wirken hier also zusammen (Schindler 2020). Aus theoretischer Sicht haben wir es mit einem Doppelproblem zu tun. Diesem Doppelproblem lässt sich weder in der einen noch in der anderen Richtung schlicht entkommen. Zwei zentrale Pfade der Theoriediskussion haben damit ihre gesellschaftliche Unschuld verloren: Zum einen das Bemühen um fortlaufende theoretische Ent-Essenzialisierung, in dem gegenwärtig die Hauptrichtung der Suche nach theoretischen Innovationen zu bestehen scheint. Zum anderen der Versuch der Rückgewinnung einer realistischen, positiven Perspektive für die Sozialwissenschaft durch die Behauptung ihrer normativen Überlegenheit. Wie lässt sich mit dieser Situation umgehen?
Über den Workshop
Jener Frage kann man sich auf verschiedenen – empirischen wie theoretischen – Wegen nähern, und dieser Workshop soll ganz unterschiedlichen Ansätzen Raum bieten (und durchaus auch zu dem ein oder anderen theoretischen Experiment ermutigen). Im Folgenden möchte ich die Facetten des Workshop-Themas am Beispiel des Denkens von Hannah Arendt entfalten – was aber nicht heißt, dass nun alle (oder irgendeiner der) Beiträge tatsächlich mit Arendt arbeiten muss; der Anschluss an das Arendt’sche Denken soll nur als Beispiel und Anregung dafür dienen, wie man die Sache angehen könnte und welche Themenfelder dabei besonders interessant werden.
Der Bezug zu Arendt kommt dabei vielleicht deshalb nicht ganz überraschend, weil man im Rahmen der Diskussionen um die gesellschaftliche Wahrheitskrise immer wieder auf ihre Arbeiten gestoßen wird: Insbesondere ihre Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Politik und Wahrheit (Arendt 2021) ist hochaktuell und inspiriert die sozialwissenschaftliche Forschung in ihren Versuchen, sich auf die Gegenwart einen Reim zu machen (z.B. Gess 2021; Vogelmann 2018; Zerilli 2019). Meine Vermutung wäre allerdings, dass die Aktualität des Arendt’schen Denkens noch deutlich über die reine Koinzidenz der Themenwahl hinausreicht. Mir scheint es ein instruktives Beispiel für eine Art von Theoriebildung zu sein, die unter ‚postfaktischen‘ Bedingungen neue Schwerpunkte setzen hilft und damit neue theoretische Möglichkeiten eröffnet. Im Vorfeld dieses Workshops jedenfalls ist die Auseinandersetzung mit Arendt hilfreich, um theoretische Brennpunkte zu ermitteln, an denen sich möglicherweise produktive Debatten über die Arbeit an und mit sozialwissenschaftlicher Theorie in der Gegenwart entzünden lassen. Diese Brennpunkte liegen in den Bereichen der Zeitdiagnose, der Sozialtheorie, der Epistemologie und der gesellschaftstheoretischen Bedeutung der Demokratie.
1) Zeitdiagnose
In der öffentlichen Debatte mag sich die Diagnose der Wahrheitskrise zumindest zeitweise durchgesetzt haben, wissenschaftlich ist sie jedoch umstritten (vgl. z.B. Vogelmann 2018; Habgood-Coote 2019). Umstritten nicht zuletzt unter Verweis auf Arendt, in deren Analysen einmal mehr deutlich wird, wie wenig neu die politische Inanspruchnahme der Falschbehauptung doch ist. Sei es in totalitären Regimen, sei es in den demokratischen USA der 1960er Jahre, in denen die Bevölkerung bewusst und über Jahre hinweg bezüglich der Erfolgsaussichten des Vietnamkriegs angelogen wurde. Letzteres lässt sich sogar gut dokumentiert in den sogenannten „Pentagon Papers“ nachlesen (Arendt 2021).
Doch Arendts Position in dieser Frage hat nichts mit dem Fatalismus des ‚common sense‘ zu tun, der sich politisches Handeln von vorneherein und unweigerlich als korrumpiertes Handeln vorstellt. Arendt analysiert die politische Wahrheitskrise ihrer Zeit vielmehr als ein Phänomen des Rückzugs des Politischen, das dadurch zustande kommt, dass das ambivalente Verhältnis von Politik und Wahrheit aus der Balance gerät. Denn Arendt folgend ist jenes Verhältnis eben genau das: nicht eindeutig, sondern ambivalent; gute Politik bindet sich Arendt zufolge an die Wirklichkeit, lässt sich jedoch nicht von ihr determinieren – die Spezifik politischen Handelns liegt für sie entsprechend gerade in der Kapazität, einen „Neuanfang“ (Arendt 1993: 49) machen zu können, also das bloß Gegebene zu überschreiten. Folglich führt lediglich ein schmaler Grat vom politischen Gestaltungswillen, der die Realität nicht hinnimmt und auf ihre Transformation drängt, zur politischen Lüge, welche die Realität schlicht negiert. In Arendts Worten: „die bewußte Leugnung der Tatsachen – die Fähigkeit zu lügen – und das Vermögen, die Wirklichkeit zu verändern – die Fähigkeit zu handeln, hängen zusammen; sie verdanken ihr Dasein derselben Quelle: der Einbildungskraft“ (Arendt 2021: 9).
Der Gegenwart ließe sich vor dem Hintergrund eines derart ambivalenten Wirklichkeitsverhältnisses mit Arendt ein doppeltes politisches Defizit attestieren: Ein zunehmender Wirklichkeitsverlust (Arendt 2021: 21) einerseits, der durch die Verselbstständigung selbstgenügsamer Narrative (verstärkt etwa in den Kommunikationsblasen digitaler Netzwerke) entsteht. Andererseits eine Wahrheitshörigkeit, die aus einer allzu simplen Hoffnung auf Eindeutigkeit resultiert und unrealistische Erwartungen an die Lösungskompetenz von Wissenschaft und Expertentum weckt (vgl. Bogner 2021). Wir begegnen hier wieder, nun in empirischer Form, dem Doppelproblem von Relativierung und Absolutsetzung, auf das ich bereits eingangs verwiesen hatte. Was auf der Strecke bleibt, das ist nach Arendt das, was zwischen beidem vermitteln könnte, nämlich die Urteilskraft (Arendt 2013a) – also die Fähigkeit, spezifische Wahrnehmungen und abstrakte Annahmen eigenständig in ein differenziertes Verhältnis setzen zu können.
Historisch betrachtet wären dies alles allerdings Tendenzen, die keineswegs völlig neu, sondern im Gegenteil, der (westlichen) politischen Kultur tief eingeschrieben sind; die unter Trump’scher Führung eingekehrte Wahrheitsindifferenz und der in den Pentagon Papers aufgedeckte Lügenskandal sind nur zwei Beispiele dafür (und es wäre sicherlich interessant, sie in ihrem Verhältnis genau zu analysieren). Etwas paradox formuliert könnte man jene Tendenzen als eine Art ‚Standardkrise‘ begreifen, von der moderne politische Systeme kontinuierlich bedroht sind. Ist tatsächlich nichts Neues, nichts Spezifisches an der Situation, in der wir uns gegenwärtig befinden? Ist die Diagnose der alles Bisherige übersteigenden Wahrheitskrise nur das Produkt des mächtigen Willens zur Überhöhung der eigenen Zeit – der Welt also, wie man sie vorfindet und in der man selbst lebt? Es gibt gute Gründe, vor einem ahistorischen Abgesang auf die demokratische Kultur der Gegenwart zu warnen; doch ebenso gibt es gute Gründe, die These schlichter Kontinuität in Zweifel zu ziehen. In den Debatten um das ‚postfaktische Zeitalter‘ wird in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben, dass – im Unterschied zu vergangenen Wahrheitskrisen – nicht die politische Lüge an sich als Problem in Erscheinung trete. Sondern der Umstand, dass man sich gar nicht mehr um die Verschleierung der unwahren Behauptung bemühen müsse, dass also Wahrheit als normativer Bezugspunkt überhaupt irrelevant geworden sei. Stattdessen genüge man sich im emotional gestützten Glauben an die Berechtigung der eigenen Weltsicht (McIntyre 2018: 3ff.).
Mehr noch als das Irrelevantwerden von Wahrheit (das ich für noch nicht ausgemacht halte) scheint mir jedoch das Allgemeinwerden der Wahrheitskrise ein Spezifikum, ein Ausweis der Diskontinuität der Gegenwart zu sein. Während Arendt die Krise noch ganz klar im Spektrum des politischen Feldes und in der Deformation der politischen Akteur:innen verorten konnte, ist die Wahrheitskrise unserer Zeit gesellschaftlich ortlos geworden. ‚Fake news‘, Verschwörungstheorien und Wissenschaftsskepsis liegen quer zu gesellschaftlichen Teilbereichen und sozialen Schichten, sie durchdringen die Gesellschaft als Ganze (wenn auch mitnichten einheitlich). Entsprechend ist die Sorge um Wahrheit, ist auch eine gewisse geltungsbezogene Rat- und Orientierungslosigkeit (relativ) allgemein geworden. Gut beobachten lässt sich das etwa an der Debatte um das ‚postfaktische Zeitalter‘ selbst.
In solchem Allgemeinwerden der Auseinandersetzung um Geltungsfragen scheint zugleich aber doch wieder eine interessante historische Parallele auf – eine Parallele zur Epoche der Aufklärung nämlich. Denn in der Zeit der Aufklärung folgte, wie heute, auf den Beginn einer umwälzenden Medienrevolution ein allgemeines, gesellschaftsweites Ringen um Geltung (vgl. Israel 2001: 14). So betrachtet ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass vielen Kommentator:innen der gegenwärtigen Wahrheitskrise die höchst affirmative Anrufung der Aufklärung offenbar als so naheliegend erscheint[2] – in einer Rückbesinnung auf die epistemischen Tugenden jener Zeit sehen sie das Rezept zur Überwindung der verwandten Krise von heute. Angesichts der Widersprüchlichkeit des Versuchs, sich auf die Tradition eines traditionsüberwindenden Denkens zu berufen, bleibt es jedoch eine Frage der theoretischen Urteilskraft im Arendt’schen Sinne: Ob und wie die unserer Zeit gemäßen Denkformen nicht doch mehr sein müssen als eine reine Reproduktion der Ideen der Aufklärung.
2) Sozialtheorie
Die Frage nach zeitgemäßen Denkformen betrifft nicht nur zeitdiagnostische Anstrengungen, sondern auch ganz grundlegend die Art und Weise, wie man sich theoretisch dem (menschlichen) Zusammenleben nähert. Anti-essenzialistische Ansätze – die ja vor dem Hintergrund der Diagnose des ‚postfaktischen Zeitalters‘ so stark unter Beschuss geraten sind – haben dabei eine klare sozialtheoretische Tendenz: Sie neigen zur „monistischen“ (Braidotti 2014: 62) Theoriebildung, also zu einem Denken aus einem einzelnen, hochabstrakten Prinzip heraus (beispielsweise der Differenz, der Macht, der Relation, der Kommunikation etc.). Das lässt sich auch leicht nachvollziehen: Schließlich ist aus dieser Theorieperspektive jede einmal getroffene Unterscheidung, jede behauptete Dichotomie als potentieller ‚Essenzialisierungsgenerator‘ verdächtig und droht, sich zur verabsolutierten Differenz aufzuschwingen. Dichotomien und Unterscheidungen müssen daher unter Rückführung auf jenes abstrakte Prinzip immer wieder verflüssigt, symmetrisiert und einander (zumindest potentiell) gleich gemacht werden.
Dieser monistischen Form der Theoriebildung steht Arendts Blick auf die Welt fast schon diametral entgegen. Zwar ist auch Arendts Zugang zur Wirklichkeit nicht-fundamentalistisch angelegt – Welt kennt bei ihr weder Teleologie noch Absolutheit. Doch die theoretische Konsequenz daraus besteht für sie gerade nicht darin, alles (zumindest konzeptionell) gleich zu machen. Also alles auf ein und dasselbe Prinzip des Sozialen zurückzuführen, was im gesellschaftlichen Alltag als unterschiedlich erscheint. Auch geht es bei ihr nicht, wie in vielen auf ‚Erklärung‘ ausgelegten Theoriezugängen, um das Aufdecken und Entlarven von verborgenen Wirkfaktoren (vgl. Brichzin/Schindler 2018). Arendts theoretische Strategie besteht vielmehr gerade darin, in der Kontinuität der (durchaus offensichtlichen, nicht verborgenen) Erscheinungen des gesellschaftlichen Alltags konstitutive (und in der Pluralität der Erscheinungen leicht zu übersehende) Diskontinuitäten herauszuarbeiten. Müsste man Arendts Denken in einem Begriff charakterisieren, so ließe sie sich daher vielleicht am ehesten als Denkerin der Diskontinuität bezeichnen.
Diskontinuität, das klingt zunächst einmal, als könnte der Begriff eben doch etwas mit der Denkfigur der Differenz zu tun haben. Letztere spielt ja beispielsweise in Anschluss an Jacques Derrida im Poststrukturalismus eine so grundlegende Rolle als die Gesellschaft durchwaltendes Prinzip der Nichtidentität (Derrida 2016). Doch Diskontinuität ist bei Arendt selbst keine zentrale analytische Kategorie, kein sozial wirksames Prinzip, das die Formierung von Gesellschaft durch Prozesse der Differenz-Bildung vorantreibt. In Arendt’scher Perspektive wird die Welt vielmehr von vorneherein als pluralistisch bevölkerte (statt unbestimmte) gedacht. Der Begriff der Diskontinuität verweist damit vielmehr auf eine Art der Theoriebildung, die ungeniert auf die theoretische Gründung aus multiplen, nicht ineinander überführbaren und keine Totalität aufspannenden (also unabgeschlossenen), eben diskontinuierlichen Theoriemomenten setzt. Beispielhaft lassen sich bei Arendt die zentralen Formen menschlicher Praxis anführen, denen in ihrem Denken große analytische Bedeutung zukommt: Arbeiten, urteilen, denken, herstellen und handeln stehen bei ihr nebeneinander (ohne Anspruch auf Vollständigkeit). Diese Kategorien berühren und überschneiden sich vielleicht gelegentlich, wirken zusammen, meinen aber letztlich jeweils etwas Spezifisches, auf das sich begrifflich nicht ohne Verlust verzichten lässt.
Anstatt also – wie es typisch ist für anti-essenzialistische Ansätze – denkend nach Wegen zu suchen, die eine aktive Verabschiedung von eindeutigen bzw. vereindeutigenden Bestimmungen ermöglichen, wird für Arendt gerade das mutige Bekenntnis zur klaren Bestimmung zentral. Ihr Bezugsproblem ist damit nicht die Angst vor der falschen Festschreibung von Wirklichkeit als eindeutige Wahrheit. Ihr Bezugsproblem ist die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit aus nur einem Blickwinkel vollauf erfassen zu können (Arendt 1993: 52). Diese Verschiebung des Problembezugs wirkt klein, ist aber entscheidend. Und so setzt sie denn auf die entschlossene Ausformulierung eines bestimmten Blickwinkels – jedoch frei vom Anspruch, damit ein Ganzes, ein System oder eine Totalität abbilden zu müssen.
Es ist also kein Zufall, dass bereits im Abschnitt zur Zeitdiagnose Fragen von Kontinuität und Diskontinuität aufgetaucht sind. Arendts Überlegungen zum schmalen Grat, der vom politischen Gestaltungswillen zur politischen Lüge verläuft, sind typisch für ihr Denken: Weder scheut sie sich davor, Kontinuität dort zu erkennen, wo andere solche Nähe nicht wahrhaben wollen. Denken wir nur an ihre Diagnose, der „Verwaltungsmassenmörder“ Adolf Eichmann – den sich viele zur damaligen Zeit nur als durch und durch bösen Menschen vorstellen können – wäre eigentlich ein ganz banaler, pedantischer, nichtiger Charakter gewesen; doch gerade diese Banalität eröffne ein umso gefährlicheres Einfallstor für die Verwirklichung des Bösen (Arendt 2013b: 231). Noch hält Arendt die Einsicht in diese Nähe davon ab, radikale Diskontinuität zu diagnostizieren: Für sie besteht eben doch ein kategorischer Unterschied zwischen der politischen Gestaltung und der politischen Manipulation (ebenso wie zwischen einem einfachen Bürokraten und dem Schergen eines totalitären Regimes). Arendts Denken ist darauf ausgelegt, „qualitative Sprünge“ zu erkennen, wie man vielleicht mit Theodor Adorno sagen könnte (Adorno 1970: 182) – es dreht sich darum, durch Kontinuität hindurch Diskontinuität zu identifizieren.
Anti-essenzialistische Theorien liefern das Denken der epistemischen und normativen Beliebigkeit aus, so lautet ein häufiger Vorwurf. Die monistische Anlage vieler aus dieser Richtung stammender Sozialtheorien jedenfalls bietet, bei aller teilweise geäußerten normativen Emphase, kaum differenzierte Ansatzpunkte für die Ausübung theoretischer bzw. normativer Urteilskraft – zumindest jenseits der (äußerst bedeutsamen) Feststellung, dieses oder jenes Vorgehen, diese oder jene Bestimmung habe in problematischer Weise essenzialisierende Wirkung (vgl. Amlinger 2020; Koschorke 2018). Unter ‚postfaktischen‘ Bedingungen kommt es aber möglicherweise gerade darauf an, die differenzierte Unterscheidungsfähigkeit – und damit auch die Urteilsfähigkeit – bereits auf sozialtheoretischer Ebene zu stärken. Wo genau liegt etwa der qualitative Sprung, betrachtet man den schmalen Grat zwischen demokratienotwendigem Hinterfragen des gesellschaftlichen Status quo und seiner demokratiezersetzenden Miss- bzw. Verachtung (wie wir sie etwa im rechtsradikalen Denken beobachten können)? Möglicherweise hilft das auf Diskontinuitäten scharfstellende Denken Hannah Arendts, genau solchen brennenden Fragen der Gegenwart beizukommen.
3) Epistemologie
Auch Wahrheit ist für Arendt ein diskontinuierliches Konzept, sie nutzt mindestens vier unterschiedliche Begriffe davon: mathematische, wissenschaftliche, Tatsachen- und philosophische Wahrheit. Mich interessieren hier vor allem die letzteren beiden Verständnisse von Wahrheit – zunächst einmal also die „Tatsachenwahrheit“ (Arendt 2021: 9), weil es diese Art von Wahrheit ist, um die sich auch die gegenwärtige Wahrheitskrise vor allem dreht. Unter Tatsachenwahrheiten versteht Arendt nämlich das, was man vielleicht auch als ‚Ereignistreue‘ bezeichnen könnte: die Übereinstimmung mit nach gemeinsamer Konvention angebbaren und messbaren Rahmendaten (was, wann, wer, wo, mit wem?). Eine typische Tatsachenwahrheit bestünde etwa in der korrekten Angabe der Zahl der Zuschauer:innen bei politischen Amtseinführungen.
Anzeichen einer (politischen) Kultur der Tatsachenmissachtung rufen jene auf den Plan, die eine Rückkehr zum erkenntnistheoretischen ‚Realismus‘ einfordern; genauer noch (und umfassender) eine Rückkehr zum Geist der Aufklärung, die als Projekt des gesellschaftsweiten Bekenntnisses zu eindeutig bestimmbaren (Tatsachen-)Wahrheiten vorgestellt wird (z.B. Gabriel 2020). Dass eine solche Vorstellung jedoch mit Vorsicht zu genießen (und möglicherweise auch schlicht erkenntnistheoretisch unlauter; vgl. Vogelmann 2018: 21) ist, hatte sich bereits weiter oben angedeutet: eine zu geringe Orientierung an Tatsachen – der Wirklichkeitsverlust in Arendts Verständnis – kann zwar in unfreie, in totalitäre Verhältnisse hineinführen. Doch auch eine zu starke Tatsachengläubigkeit stiftet Unfreiheit.
Erkenntnistheoretisch gewendet macht die Ambivalenz des politischen Gebrauchs der Tatsachenwahrheit deutlich, dass jene Wahrheit nur eine Komponente von Wirklichkeit ist. Wirklichkeit ragt immer über Tatsachenwahrheit hinaus, sie fällt nicht mit ihr in eins und wird nicht von ihr determiniert (vgl. Quine 1951). Wenn also (mithilfe einer an Diskontinuitäten geschulten Perspektive) klar wird, dass Tatsachenwahrheit und Wirklichkeit konzeptionell von vorneherein nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, so eröffnet dies einen interessanten neuen Blick auf das Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit (vgl. Gess 2021): In den Fokus gerät dann die gesellschaftliche Stellung und der gesellschaftliche Gebrauch von Tatsachenwahrheiten.
Einen ähnlichen Fokus hatte Adorno schon in seiner Auseinandersetzung mit dem „neuen Rechtsradikalismus“ (Adorno 2019) gefordert. Er hebt hier die Notwendigkeit einer expliziten Analyse des Wahren im Falschen hervor. Denn es sei ja keineswegs so, dass „alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind“ (ebd.: 39). Vielmehr geschehe es durchaus, dass „auch das Wahre in den Dienst der unwahren Ideologie […] tritt“ (ebd.). Im Umgang mit der radikalen Rechten darf man es sich nicht zu leicht machen, so lässt sich Adornos Position verstehen, indem man sie schon a priori als basierend auf vollständig falschen Annahmen deklariert. Man läuft dann nämlich Gefahr, einen großen Teil dessen zu verkennen, was überhaupt die Anziehungskraft rechtsradikaler Politik ausmacht. Dieses Credo gilt auch heute, vielleicht mehr noch als damals: Wer die politischen Verwerfungen unserer Zeit verstehen möchte, der wird nicht umhinkommen, auch diesen schmalen Grat abzuschreiten – zwischen einer progressiven und einer regressiven Bezugnahme auf (Tatsachen-)Wahrheit.
Doch für Arendt gibt es eben nicht nur die eine, die Tatsachenwahrheit. Die demgegenüber umfassendere Vorstellung von Wahrheit ist das, was Arendt „philosophische Wahrheit“ nennt. Mit dieser Vorstellung schließt Arendt an die klassische Tradition an, die Wahrheit als adäquaten Ausdruck von Wirklichkeit denkt. Aus der Sicht Arendts lässt sich diese Form von Wahrheit – anders als die Tatsachenwahrheit – jedoch nicht eindeutig und aus der genauen Auseinandersetzung des Subjekts mit dem Objekt heraus bestimmen. An die Stelle des Subjekt-Objekt-Verhältnisses tritt bei ihr das Verhältnis von Objekt und Pluralität: „[…] niemand [kann] all das, was objektiv ist, von sich her und ohne seinesgleichen adäquat in seiner vollen Wirklichkeit erfassen […], weil es sich ihm immer nur in einer Perspektive zeigt und offenbart, die seinem Standort in der Welt gemäß und inhärent ist. […] Erst in der Freiheit des Miteinander-Redens ersteht überhaupt die Welt als das, worüber gesprochen wird, in ihrer von allen Seiten her sichtbaren Objektivität“ (Arendt 1993: 52). Wahrheit im philosophischen Sinne lässt sich also keinesfalls auf sich (bzw. die subjektiven Kapazitäten) allein gestellt und niemals absolut und endgültig erreichen.
Im Forschungsfeld der politischen Epistemologie (vgl. Vogelmann 2020; Straßheim 2017; Jasanoff 2017) ergibt sich vor diesem Hintergrund eine interessante Fragestellung: Wenn Wahrheit in einem derart umfassenderen Sinne nur kollektiv erreicht werden kann – man also über die subjektiven und objektiven Erkenntnisbedingungen hinausblicken muss –, was sind dann die gesellschaftlich-politischen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis? Inspiration für die Suche nach Antworten auf diese Frage findet sich dabei beispielsweise überall dort, wo man sich mit dem Wechselverhältnis von Gesellschaft und Theorie auseinandersetzt, aber auch in Bereichen wie etwa der Kognitions- und Sozialpsychologie (z.B. Lewandowsky et al. 2012), oder auch im Feld der politischen Diskurstheorie (Habermas 1998). Doch häufig wird der Blick auf die gesellschaftlich-politischen Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis verstellt durch einen zu starken Fokus der öffentlichen Debatte auf individuelle (oder gruppenspezifische) Unzulänglichkeiten, insbesondere was die Erkenntnis von Tatsachenwahrheiten betrifft. Man begnügt sich dann damit, die Dummheit dieser oder jener Personen zu diagnostizieren und verkennt damit die relationale Qualität philosophischer Wahrheit. An dieser Stelle macht sich möglicherweise der starke Schwerpunkt öffentlicher Wahrnehmung auf Tatsachenwahrheiten bemerkbar: Der hauptsächliche Fokus auf Tatsachenwahrheit steht der Kapazität zur Auseinandersetzung mit Wahrheit im zweiten Arendt’schen Sinne im Weg.
4) Gesellschaftstheorie & Demokratie
Dieser Text hat seinen Ausgang genommen bei der im öffentlichen Diskurs weit verbreiteten These, eine bestimmte Form der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung trage zumindest Mitschuld am bedauerlichen Zustand der Gesellschaft im ‚postfaktischen Zeitalter‘. Während man diese Vermutung, ja, Anschuldigung mit guten Gründen bezweifeln kann, lässt sich umgekehrt sehr viel eindeutiger und zweifelsfreier sagen: Theorie ist nicht unabhängig zu denken von jener Gesellschaft, in der sie formuliert wird. Nun gibt es verschiedene gesellschaftliche Faktoren, die in ihrer Auswirkung auf Theoriebildung bereits ausführlich diskutiert wurden, allen voran sicherlich die theorieprägende Rolle des Kapitalismus. Was aber ist mit dem zweiten zentralen, unsere gesellschaftliche Gegenwart prägenden Faktor, der Demokratie?
Auffällig ist, dass ein Bewusstsein für die Bedeutung von Demokratie als Grundlage sozialwissenschaftlichen Denkens erst mit ihrer Bedrohung zuzunehmen scheint. Wo demokratische Gewissheiten im öffentlichen Diskurs ins Wanken geraten, da werden offenbar auch theoretische Positionen unsicher – so scheint etwa der Querdenken-Bewegung das Kunststück zu gelingen, aus einem überzeugten Systemtheoretiker einen glühenden Verteidiger der Demokratie zu machen;[3] und das Erstarken rechtsradikaler Tendenzen führt dazu, dass auch ein eingefleischter Postfundamentalist in Zweifel bezüglich der eigenen theoretischen Präferenzen gerät.[4] Es ist also nicht das abstrakte Doppelproblem der Infragestellung/Absolutsetzung von Wahrheit an sich, das in der Gegenwart theoretische Reaktionen auslöst und die Zuwendung zur Frage nach adäquaten Formen des Denkens und der Theoriebildung so wichtig erscheinen lässt. Es ist vor allem die Sorge um seine politischen, genauer noch, um seine demokratischen Konsequenzen.
Vor diesem Hintergrund scheint der folgenreiche blinde Fleck gegenwärtiger Gesellschaftstheorie auf: über die demokratische Grundordnung von Gesellschaft weiß sie kaum etwas zu sagen, jene spielt weder theoretisch noch auf der Ebene der Theoriereflexion eine merkliche Rolle. Ob Gesellschaft nun als arbeitsteilig differenzierte erscheint, in der das Politische nur einen eng umgrenzten Wirkungsbereich besitzt, Demokratie also lediglich ein spezifischer Faktor der Wirklichkeitsordnung unter vielen ist, oder ob nun moderne Gesellschaft vor allem als ökonomisch bestimmte Ordnung erscheint, die von kapitalistischen Prinzipien ganz und gar (man möchte sagen, total) durchdrungen ist: Demokratie erscheint theoretisch gesehen sekundär, randständig, marginal. Im ‚postfaktischen Zeitalter‘ rächt sich das. Denn wie sehr unser Denken auf der Grundlage demokratischer Gesellschaftsordnungen basiert – in ähnlichem Maße möglicherweise wie auf der Grundlage kapitalistischer Gesellschaftsordnungen –, wird uns erst in solchen Momenten voll bewusst, in denen eben jene Ordnungen instabil zu werden drohen.
Die Vermutung liegt nahe, dass die abermalige Zuwendung zum Denken Arendts helfen könnte, um gegen diesen blinden Fleck gegenwärtiger Gesellschaftstheorie anzugehen. Doch gerade dort, wo man vielleicht am wenigsten damit rechnen würde, stößt man auch bei Arendt an merkliche theoretische Grenzen. Das mag nicht zuletzt deshalb erstaunen, weil Arendt ja immerhin zuallererst politische Theoretikerin und das Andenken gegen totalitäre Herrschaft ihr Antrieb ist. Zwar eröffnet das Zusammendenken von Pluralität und Wahrheit, wie es sich bei ihr erkennen lässt, interessante neue Perspektiven auf Demokratie jenseits der strikten Trennung von Wahrheits- und Wertfragen; jenseits also des Versuchs, fruchtbare Konzepte von Demokratie entweder aus dem einen oder dem anderen Faktor entwickeln zu wollen (z.B. Rawls 1973; Habermas 1998). Doch wie vielen Gesellschaftstheoretiker:innen fehlt auch Arendt ein expliziter Begriff von Demokratie, der klären könnte, wie sich Pluralität und Wahrheit in einem Konzept ‚guter Politik‘ verbinden.
Denn bei dieser Denkerin der Diskontinuität findet sich gerade keine systematische Differenzierung von Politik und Demokratie. Arendt hat – ganz ähnlich wie viele anti-essenzialistische Theoretiker:innen auch (vgl. z.B. Laclau/Mouffe 2014; Latour 2003; Foucault 2010) – eine geradezu monistische, auf jeden Fall strikt affirmative Vorstellung von Politik als Praxis der Freiheit (Arendt 1993: 28ff.). Genau genommen kann es bei ihr nur schwerlich ‚schlechte‘ Politik geben. Denn, wenn sie schlecht ist (also unfrei macht), dann ist es schon keine Politik mehr (sondern eben zum Beispiel Totalitarismus); und man hat sich vom Politischen als Sphäre der Freiheit bereits verabschiedet. Von einer bestimmten Warte aus ist Arendts strikt affirmativer Politikbegriff auch tatsächlich äußerst erhellend: Sie setzt damit einen bewussten Kontrapunkt zu jenem – bis heute äußerst einflussreichen – Verständnis, das in Politik nichts anderes als eine Belastung erkennen kann und Freiheit als Freisein von Politik begreift (Arendt 1993: 36). In einer gesellschaftlichen Situation wie der gegenwärtigen allerdings, in der offensichtlich wird, dass nicht jede Form von Politisierung schon per se freiheitsstiftend wirkt, schmerzt das Fehlen eines expliziten Demokratiebegriffs. Theorie verkennt häufig die gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen, die ihre Basis bilden. So muss auch jeder Form anti-essenzialistischen Denkens klar sein, dass ihre teils radikale Kritik am Status quo nur auf dem Boden einer gefestigten demokratischen Grundordnung fruchtbar werden konnte (vgl. Koschorke 2018: 112).
Ziel des Workshops
In diesem Impulspapier habe ich versucht, der zentralen These nachzugehen, die dem Workshop zugrunde liegt. Sie lautet: Die in der Gegenwart beobachtbare Verunsicherung von Wirklichkeitsverhältnissen – welche sich auch als Wahrheitskrise interpretieren lässt – zeigt die Grenzen derzeit gängiger Formen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung auf und sensibilisiert für das epistemische Doppelproblem von Positivierung und Relativierung. Positivierung und Relativierung lassen sich dabei als theoretisch ausbuchstabierte epistemische Praktiken begreifen. Die Leichtigkeit, mit der etablierte (wissenschaftliche) Einsichten gegenwärtig teilweise infrage gestellt werden, und das Selbstverständnis, mit dem jenen Einsichten alternative Sichtweisen entgegengesetzt werden, könnten Beispiele für die gesellschaftlichen Auswirkungen jener Praktiken sein. Vor diesem Hintergrund muss es darum gehen, gesellschaftliche Verwobenheit sozialwissenschaftlichen Denkens noch stärker als bisher theoretisch in Rechnung zu stellen und vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wahrheitskrise darüber nachzudenken: wie sozialwissenschaftliche Theoriebildung unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen aussehen müsste und aussehen könnte.
Vier Forschungsfelder, die für dieses Ansinnen wohl besonders relevant sind, habe ich dabei hervorgehoben: die Zeitdiagnose, die Sozialtheorie, die (politische) Epistemologie sowie die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Demokratie. Die Organisator:innen freuen sich über Beiträge, die sich mit drängenden sozialwissenschaftlichen (Theorie-)Problemen auseinandersetzen, die in diesen Feldern unter Bedingung des ‚postfaktischen Zeitalters‘ entstehen – gerne auf ganz unterschiedliche Art und Weise: Die Beiträge können sich beispielsweise mit konkreten Theorieoptionen und deren innovativem Potential für die Entschlüsselung der Gegenwart auseinandersetzen, so wie es dieser Text versuchsweise mit Arendt begonnen hat. Sehr gerne können Überlegungen aber auch auf empirischen Auseinandersetzungen beruhen – etwa mit konkreten historischen Wahrheitskrisen, oder mit regressiven gesellschaftlichen Tendenzen wie der Konjunktur des Rechtsradikalismus oder dem Aufschwung verschwörungstheoretischen Denkens. Vielleicht erscheint den Workshop-Teilnehmer:innen aber auch die zentrale These selbst als fragwürdig, erscheint ihnen also die Krisendiagnose, was sozialwissenschaftliche Theoriebildung betrifft, als nicht haltbar? Auch das ist gut denkbar – dann freuen sich die Organisator:innen umso mehr auf spannende wissenschaftliche Streitgespräche. Im günstigsten Fall gelingt es uns bei diesem Workshop im Sinne Hannah Arendts, plurale Perspektiven auf unseren Gegenstand in einer Weise zu versammeln, die ihn uns in größerer Klarheit erscheinen lässt als zuvor.
Literatur
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Arendt, Hannah (2021): Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays, 6. Auflage. München: Piper.
Arendt, Hannah (2013a): Das Urteilen. München: Piper.
Arendt, Hannah (2013b): Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper.
Arendt, Hannah (1993): Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlaß. München/Zürich: Piper.
Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Stuttgart: Reclam.
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Brichzin, Jenni; Schindler, Sebastian (2018): Warum es ein Problem ist, immer ‚hinter‘ die Dinge blicken zu wollen. Wege politischer Erkenntnis jenseits des verschwörungstheoretischen Verdachts. Leviathan 46 (4), S. 575-602.
Butter, Michael (2020): ‚Nichts ist, wie es scheint‘. Über Verschwörungstheorien, 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp.
Derrida, Jacques (2016): Die Schrift und die Differenz, 12. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Farkas, Johan; Schou, Jannick (2020): Post-truth, fake news and democracy. Mapping the politics of falsehood. New York: Routledge.
Flatscher, Matthias; Seitz, Sergej (2018): Latour, Foucault und das Postfaktische: Zur Rolle und Funktion von Kritik im Zeitalter der ‚Wahrheitskrise‘. Le foucauldien 4 (1): 1-30.
Foucault, Michel (2019): Überwachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, 17. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2010): Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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Gabriel, Markus (2020): Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Berlin: Ullstein.
Gess, Nicola (2021): Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Berlin: Matthes & Seitz.
Habermas, Jürgen (1998): Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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[1] Siehe zum Beispiel den Kommentar von Anna-Lena Scholz in „Die Zeit“ vom 1.7.2021 (Nr. 27, S. 29, Wissen): „Wer sieht hier ein Muster? Soziologen sollen der Gesellschaft erklären, wie sie tickt. In der Krise sind sie gefragt wie nie – doch je populärer sie werden, desto umstrittener sind ihre Diagnosen.
[2] So bezieht sich etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron immer wieder höchst affirmativ auf die Aufklärung (https://www.la-croix.com/France/Emmanuel-Macron-veut-defendre-Lumieres-monde-2020-11-18-1201125266; zuletzt abgerufen am 11.10.2021).
[3] So zum Beispiel Armin Nassehi im Interview für Deutschlandfunk Kultur vom 9.11.2020 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/protest-gegen-die-anti-corona-massnahmen-die-wissen-auf.1008.de.html?dram:article_id=487806; zuletzt abgerufen am 11.10.2021).
[4] Siehe zum Beispiel Albrecht Koschorke (2018): Die akademische Linke hat sich selbst dekonstruiert. Es ist Zeit, die Begriffe neu zu justieren. Neue Zürcher Zeitung vom 18.4.2018.