Theorieinnovation durch Ent-Essenzialisierung und ihre Grenzen
Beitrag bei der Tagung „Begriffe. Vernachlässigte Werkzeuge der Theoriebildung? Ein Aufruf zur Debatte“am 3./4. März in München (bzw. digital)
Problemaufriss
Im vergangenen Jahr hatten wir hier an der UniBw, in unserem soziologischen Kolloquium, Besuch von einer finnischen Kollegin. Salla Sariola heißt sie, und das ist sie. In ihrer Forschung interessiert sich Sariola insbesondere für Mikroben, genauer: für das Zusammenleben von Mikroben und Menschen unter Bedingungen des Anthropozän. Relevant wird ihre Forschung insbesondere vor dem Hintergrund einer drohenden existenziellen Krise: dem post-antibiotischen Zeitalter – einer Zukunft also, in der Krankheitserreger zunehmend resistent werden und Antibiotika ihre Wirksamkeit auch gegenüber jenen Krankheitserregern verlieren, die wir heute so selbstverständlich im Griff zu haben glauben. Um vor diesem Hintergrund zu begreifen, wie ein nachhaltigeres, produktiveres Zusammenleben von Mikroben und Menschen – jenseits des Kampfes um Vernichtung – möglich sein kann, geht Sariola ihrem Gegenstand an ganz verschiedenen Orten nach: bei finnischen Sauerteig-Workshops, im Rahmen einer klinischen Durchfall-Studie in West-Afrika, oder bei der Fermentation von Reis zu Reisbier in Indien. Von letzterem, also einer ethnografischen Studie zur Herstellung von Reisbier, berichtete Sariola uns im Kolloquium.
Der Anspruch bei all dem ist völlig klar, und er ist hoch: Es geht um nicht weniger als die Suche nach einer neuen Art zu denken. Nach einer radikal anderen Denkweise, die den existenziellen Umwälzungen angemessen ist, die uns aus verschiedenen Richtungen – ökologisch, technisch, klimatisch, politisch – bevorstehen. Wie Sariola schon in einer ihrer ersten Publikationen formuliert muss es, kurzum, darum gehen, „[to] think new thoughts, have new experiences, create new concepts“ (Douglas-Jones/Sariola 2009). Damals beginnt sie, mit dem Konzept des „Rhizoms“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu arbeiten. Es erscheint ihr vielversprechend, um das so stark von hierarchischem Ordnungswillen geprägte westliche Denken zu hinterlaufen und hergebrachten, essenzialisierenden Kategorien den Kampf anzusagen. Nun, mehr als zehn Jahre später, analysiert sie im Vortrag die verflochtenen Existenzweisen von Mikroben und Menschen am Beispiel der Reisbierproduktion; sie geht Formen der ökologischen Einfühlung auf den Grund, die dabei zum Tragen kommen; und sie setzt sich mit den nicht-linearen Zeitordnungen auseinander, in denen man sich dabei bewegt. Und doch scheint am Ende ihres Vortrags ein Moment ehrlicher Enttäuschung auf. Sariola betont nach wie vor die Notwendigkeit, neue Konzepte zu entwickeln, stößt dabei aber an Grenzen. In Sachen theoretischer Innovation kommt sie zu dem etwas ernüchterten Fazit: „Und leider bin ich dann am Ende doch wieder beim Begriff des Rhizoms gelandet…“.
Nun geht es mir in meinem Vortrag (manche meinen vielleicht: leider) nicht um die Produktion von Reisbier. Vielmehr geht es mir um genau jenes Streben nach konzeptioneller Erneuerung, das sich in Sariolas (in den Science and Technology Studies verankerter) Herangehensweise manifestiert; insbesondere auch um den damit einhergehenden Moment der Enttäuschung am Begriff. Daher verabschieden wir uns an dieser Stelle von der geschätzten finnischen Kollegin (die übrigens sehr humorvoll mit dem Vorhaben einverstanden war, diesem Vortrag als „Aufhänger“ zu dienen). Denn ihre Forschung steht hier lediglich exemplarisch – exemplarisch für eine bestimmte, zumindest in einigen Feldern dominante (und häufig immer noch als avantgardistisch verstandene) Art des Theoretisierens. Eine Art des Theoretisierens nämlich, die ganz fundamental durch ein Bemühen um „Ent-Essenzialisierung“ gekennzeichnet ist.
Das kontinuierliche Bemühen um Ent-Essenzialisierung – ich spreche, wie auch am Titel meines DFG-Projekts ersichtlich, von anti-essenzialistischer Theorie (man braucht ja immer so Begriffe…) – zeichnet dabei eine bestimmte Form konstruktivistischer Theoriebildung aus. Klassisch konstruktivistisch geht man natürlich auch hier auf der, ich sage jetzt mal: ontologischen Ebene von der Unbestimmtheit von Welt aus, und auf sozialtheoretischer Ebene vom praktischen Hervorgebrachtsein der je konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch Anti-Essenzialist:innen geht es dabei nicht schlicht um eine Neubeschreibung des Sozialen unter konstruktivistischen Vorzeichen. Sie gehen noch einen Schritt weiter. Ihr Bezugsproblem ist die zentrale konstruktivistische (und empirische!) Erkenntnis: dass Menschen dazu tendieren, Wirklichkeit fälschlich als eindeutige Wahrheit festzuschreiben. Auf diese Erkenntnis reagieren sie mit einer Verschiebung des Erkenntnisinteresses: Wenn doch gerade die Versuche positiver Bestimmung von Wirklichkeit das Problem sind – etwa, weil sie kontingente Machtverhältnisse zementieren und Ausschlüsse produzieren –, dann kann die positive (und sei es konstruktivistische) Bestimmung von Wirklichkeit nicht das primäre Ziel wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens sein. In den Fokus rückt dann vielmehr die fortlaufende Arbeit an der Freisetzung aus eben solchen Bestimmungen, wie sie uns etwa bei Salla Sariola begegnet ist (aber sehr klar etwa bereits von Michel Foucault beschrieben wird). Nicht nur die wissenschaftliche Bestimmung, auch die aktive Arbeit an der Freisetzung aus der Bestimmtheit wird damit als eigenständige Erkenntnisleistung begreiflich.
Freisetzung aus Bestimmtheit ist aber in der Tat harte Arbeit, das permanente Angehen gegen jegliche Form sich vereindeutigender/verfestigender Bestimmung ist schwierig. (Ich habe mir gedacht, zur Illustration freut man sich in einem trockenen Theorievortrag vielleicht über den Anblick einer Conchiermaschine, wie sie bei der Herstellung von Schokolade zum Einsatz kommt – sie muss auch andauernd Arbeit verrichten, um Verfestigungsprozessen entgegenzuwirken.) Wenn das aber so schwierig ist, wie kann solche Freisetzung dann praktisch gelingen? Welche technischen Mittel muss Theorie heranziehen (die theoretische Conchiermaschine ist ja leider noch nicht erfunden), um Bestimmungen sozusagen „auszuhebeln“ und damit Ent-Essenzialisierung zu erreichen? Mit diesen Fragen bin ich nun vollauf beim Thema dieser Tagung angekommen: den Begriffen.
Begriffe, die ent-essenzialisieren
Von Beginn an macht sich in der anti-essenzialistischen Denkbewegung ein „Unbehagen an der Kategorie“ breit (Haag 2003). Dass es sich dabei nicht um eine völlig neue Entwicklung handelt, braucht nicht groß erklärt zu werden. Aber weil man bei einer Tagung zum Thema „Begriffe“ ja vielleicht ein Gefühl für die Bedeutung schmissiger Ausdrücke hat, würde ich mich jetzt mal trauen, von den 1970er bis 1990er Jahren als einer „Achsenzeit der Ent-Essenzialisierung“ in den Sozialwissenschaften zu sprechen. Denn in unterschiedlichen Theorien und Forschungsfeldern lässt sich in dieser Zeit ähnliches beobachten: in poststrukturalistischen, feministischen, science studies, postmodernen, postkolonialen, postmarxistischen usw. Theorien stößt man in unterschiedlicher, aber doch paralleler Weise auf das Bestreben, das Denken aktiv zu ent-essenzialisieren. Und in unterschiedlicher, aber doch paralleler Weise wird den Theorien dabei der Begriff zum Problem.
Dass Begriffe Probleme bereiten, ist natürlich keine spezifisch anti-essenzialistische Einsicht. Theodor Adorno, auf den ich etwas später noch einmal zurückkommen werde, schreibt etwa 1970 in seinem philosophischen Hauptwerk „Negative Dialektik“ über die „Not der Philosophie, mit Begriffen zu operieren“ (Adorno 1970: 21). Für ihn konstituieren Begriffe zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Denkens und die spezifische Grenze, die dem Denken auferlegt ist. Denn Begriffe ermöglichen Erkenntnis, indem sie Gegenstände als Einheit anzusprechen erlauben – zugleich können sie aber eben nicht anders, als Gegenstände als in sich geschlossene Einheiten anzusprechen und dadurch zu identifizieren; in diesem Sinne sind sie „doppelgesichtig“. Begriffe bergen also immer das Risiko in sich, als Motoren der Verdinglichung, als Generatoren der Essenzialisierung zu wirken – Begriffe wie Frau und Mann, In- und Ausländer, schwarz und weiß, (mitunter auch „Kevin“, „Chantal“ oder „Karen“) verwandeln sich unter der Hand von bloßen Namen in Wesensannahmen. Um eine derartige Wirkung zu vermeiden, müssen auf der Ebene des theoretischen Begriffsgebrauchs spezielle Vorkehrungen getroffen werden.
Im Rahmen meines Projekts zur „Kritik anti-essenzialistischer Soziologie“ analysiere ich, unter anderem, vergleichend Schlüsselwerke anti-essenzialistischen Denkens. Dabei geht es mir jedoch nicht um eine weitere, tiefgehende Analyse sozial- und gesellschaftstheoretischer Gemeinsamkeiten und Differenzen – etwa entlang der üblichen Fragen: Wie wird hier jeweils Ordnung und Wandel, wie werden Praxis und Agency konzipiert, welche Rolle spielt Sprache, welche Rolle spielt Materialität? Vielmehr schließe ich an dieser Stelle an die Theorizing-Debatte an, indem ich (statt eines inhaltlichen) einen völlig technischen Blick auf die zu analysierenden Texte richte. In diesem Sinne gehe ich, recht schlicht, der Frage nach: Durch welche theoretischen Mittel erzielen die Autor:innen in ihren Texten konkret ent-essenzialisierende Wirkung? Momentan stecke ich gerade noch mittendrin in der Analyse. Zwei bemerkenswerte Techniken anti-essenzialistischer Begriffsbildung, die mir dabei begegnen, kann ich im Folgenden aber schon einmal versuchshalber charakterisieren: Zum einen ist das die Technik der „metaphorischen Immersion“, zum anderen die Technik der „abstrahierenden Temporalisierung“.
Zunächst zur metaphorischen Immersion. Ein Beispiel für diese Begriffsbildungstechnik steht bereits im Titel meines Vortrags: aus meiner Sicht lässt sich das Konzept des Rhizoms von Deleuze und Guattari, wie es in ihrem Buch „Tausend Plateaus“ auftaucht, genau so verstehen. Wie funktioniert also die metaphorische Immersion? Zunächst geht es darum, einen Begriff ausfindig zu machen, der drei Eigenschaften mit sich bringt: Er muss, erstens, mit dem eigenen Gefühl für den Gegenstand resonieren. Zweitens muss er stark mit Bedeutung aufgeladen sein. Diese Aufladung mit Bedeutung darf sich aber, drittens, gerade nicht aus dem philosophisch-sozialtheoretischen Feld speisen, sie muss jenseits dessen erfolgt sein – den Rhizom-Begriff beispielsweise lässt das Feld der Biologie mit Bedeutung schwanger gehen. Solche Jenseitigkeit ist die zentrale Voraussetzung für die ent-essenzialisierende Wirkung dieser Begriffsbildungstechnik. Denn sie ermöglicht es, dichte Aussagen über den Gegenstand zu treffen, ohne dafür den etablierten (und damit eben von Essenzialisierung bedrohten) Begriffskanon aufrufen zu müssen – etwa den Kanon der Psychoanalyse, gegen den die Autoren von „Tausend Plateaus“ vor allem ankämpfen. Bei der Betrachtung des Gegenstands kann man sich nun vom Bedeutungsüberschuss der Metapher antreiben lassen – „den Pflanzen folgen“ (Deleuze/Guattari 1977: 19), nennen das Deleuze und Guattari an einer Stelle.
Sozialtheoretische Inspirationen, die sich aus dem Rhizom-Begriff gewinnen lassen, sehen dabei zum Beispiel so aus: „Das Rhizom […] kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knoten und Knötchen“ (ebd.: 11). Das Soziale kann entsprechend nicht auf eine bestimmte Form (Macht zum Beispiel, oder Ungleichheit, oder Kapitalismus) festgelegt werden – es gilt, der Vielheit der Formen und ihrem Zusammenhang nachzugehen; was sind „soziale“ Knoten, was sind „Knötchen“? Weiter: „Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden; es wuchert entlang seine[r] eigenen oder andere[r] Linien weiter“ (ebd.: 16). Das Soziale kann, so ließe sich der Gedanken aufnehmen, nicht stillgestellt, gesellschaftliche Probleme nicht handstreichartig und den Intentionen entsprechend gelöst werden; man muss das soziale Wuchern begreifen lernen. Und schließlich: „Das Rhizom läßt sich weder auf das Eine noch auf das Viele zurückführen“ (ebd.: 34). Was ist schließlich ein Rhizom, ist es eines, ist es vieles? Die Metapher mag helfen, strikt dichotome Entgegensetzungen von Mikro und Makro, von Individuum und Gesellschaft zu hinterfragen. Vor allem aber hilft sie, sich der „Abrifikation“ entgegenzustellen, wie Deleuze und Guattari formulieren – also der jahrhundertealten Tradition hierarchisierenden, zentralisierenden, also „baumartigen“ (gegenüber „rhizomatischen“) Denkens. Letzten Endes zielt die Einführung des Begriffs des Rhizoms damit nicht nur technisch, er zielt auch inhaltlich auf Ent-Essenzialisierung, auf Erneuerung ab.
Ein solcher Anspruch der Erneuerung zieht sich auch durch „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ von Bruno Latour. Es könne in der Gegenwart nicht mehr nur darum gehen, so meint er, „andere Orte“, soziologisch noch wenig beachtete Territorien aufzusuchen und zu ergründen. Vielmehr komme es darauf an, mit soziologischen Mitteln eine „vollkommen andere Landschaft zu zeichnen“ (Latour 2010: 286). Zentraler Ansatzpunkt, damit dies gelingen kann, sind auch für Latour die Begriffe. Doch die Begriffsbildungstechnik, auf die er hauptsächlich setzt, ist eine andere als bei Deleuze und Guattari; ich habe sie hier mal abstrahierende Temporalisierung genannt. Anders als Deleuze und Guattari versucht nämlich Latour der Hypertrophie soziologischer Begriffe – der Gesellschaftsbegriff ist für ihn etwa ein „verwesendes Monster“ (ebd.: 283) [Folie] – durch die Mobilisierung weitgehend abstrakter, bedeutungsloser Begriffe zu entkommen. Er setzt also auf eine „Infrasprache, die strikt bedeutungslos bleibt“ (ebd.: 54). Abstraktion und semantische Leere werden Latour auf diese Weise zum zentralen Qualitätskriterium der Begriffsbildung – Begriffe, die in diesem Sinne in „Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft“ auftauchen, sind etwa „Soziales Nr. 1“ und „Soziales Nr. 2“, „Zwischenglied“, „Mittler“, „Aktant“ und so weiter. Bedeutungslosigkeit kann in der Regel allerdings nur durch einen befristeten Gebrauch aufrechterhalten werden, da sich an einmal gewählten Begriffen nach einer Zeit eben doch unweigerlich Bedeutung absetzt. Daher spielt bei dieser Begriffsbildungstechnik also nicht nur die Abstraktion von Bedeutung eine Rolle, sondern auch die Temporalisierung.
Die abstrahierende Temporalisierung soll Forschenden ein neues Verhältnis zu ihrem Gegenstand ermöglichen. Anstelle der Tendenz zur „Inventarisierung“ (ebd.: 86), zur bloßen kategorialen Sortierung des Beobachteten, wie sie Latour in der Soziologie feststellt, sollen die neuen Begriffe in ihrer Passivität quasi funktionieren wie Modelliermasse: in ihnen sollen sich die Gegenstände ausdrücken, ihnen sollen sich die Gegenstände einschreiben können, die Begriffe sollen sich nicht den Gegenständen überstülpen. Latour rekapituliert: „Ich finde es am besten, das allgemeinste, das banalste, ja sogar das vulgärste Repertoire zu verwenden, damit keine Gefahr besteht, es mit den eigenen reichen Idiomen der Akteure zu verwechseln“ (ebd.: 54). Es gelte eben, so das bekannte Motto, „den Akteuren [zu] folgen“ (ebd.: 28).
Metaphorische Immersion und abstrahierende Temporalisierung setzen also unterschiedlich an, zielen aber auf die gleiche Wirkung: einen ent-essenzialisierenden Blick. Diese Begriffsbildungstechniken haben jedoch nicht nur ein gemeinsames Ziel, sie sehen sich auch demselben Feind gegenüber. Dieser Feind nimmt insbesondere die Gestalt systematischer begrifflicher Differenzierungen an – entweder als Horror der Dichotomien oder als Grauen der Ebenendifferenzierung (Mikro und Makro zum Beispiel, oder Individuum und Gesellschaft). Wo Dichotomien oder Ebenendifferenzierungen Einzug erhalten, gilt das anti-essenzialistisch als unmittelbarer Ausweis schlechter sozialtheoretischer Begriffsbildung. Der Ebenendifferenzierung setzen beide anti-essenzialistischen Techniken daher die Maxime der Flachheit von Theorie entgegen – keinem sozialen Phänomen soll auf „andere Ebenen“ ausgewichen, jedem soll frontal begegnet werden. Gegen Dichotomien hingegen soll die Maxime eines expliziten theoretischen Monismus helfen, der jeglicher Aufspaltung entgegenwirkt: Hinter allen Begriffen steht meistens das Verständnis des Sozialen aus einem vagen, hochabstrakten Grundprinzip heraus – der Assoziation etwa, oder der Differenz. Auf diese Weise wappnet sich anti-essenzialistisches Denken noch zusätzlich gegen die Gefahr der Vereindeutigung, Verkrustung, Verhärtung.
Ich rekapituliere kurz. Die Zielsetzung anti-essenzialistischen Theoretisierens ist klar: Während üblicherweise die Bedeutung der Neubestimmung im Erkenntnisprozess im Vordergrund steht, erkennen anti-essenzialistische Ansätze die erkenntnispraktisch notwendige Arbeit an der aktiven Freisetzung aus vorhandenen Bestimmungen. Um das Erkenntnisziel der Freisetzung zu erreichen, muss man insbesondere auf die theoretische Verwendung der Begriffe achten – dabei gibt es unterschiedliche Techniken anti-essenzialistischer Begriffsbildung, zwei solcher Techniken habe ich hier kurz charakterisiert. Die enorme theoretische Bedeutung, die der Bewegung der Ent-Essenzialisierung mittlerweile zukommt, lässt sich vor dem Hintergrund der Hoffnung auf eine Erneuerung des Denkens jenseits festgefahrener Kategorien und stereotyper Schemata begreifen – es ist die Hoffnung auf ein Denken, das dem 21. Jahrhundert mit all seinen heraufziehenden existenziellen Krisen adäquat ist. Wie lässt sich dann aber die Enttäuschung erklären, die sich trotz all dieser Anstrengungen mitunter einstellt; eine Enttäuschung nicht zuletzt am Begriff, von der wir am Beispiel Salla Sariolas eingangs ausgegangen waren? In einem letzten Schritt beginne ich, mich auf die Spuren jener Enttäuschung zu setzen. Dabei hilft noch einmal Adorno.
Der Enttäuschung folgen
Mit Adorno hatte ich das fundamentale Problem eingeführt, das sich jeglicher Begriffsverwendung stellt: Begriffe sind unverzichtbare Mittel der Erkenntnis, die bei Gebrauch zugleich die Gefahr produzieren, den Gegenstand zu verkennen. Sie sind doppelgesichtig, und das konstitutiv. Adornos Meditationen über die Praxis des Denkens, wie er sie in „Negative Dialektik“ anstellt, lassen sich als Warnung vor dem Versuch lesen, diese Paradoxie nach einer Richtung hin auflösen zu wollen. Daher ist für Adorno einerseits „die Entzauberung des Begriffs“ (Adorno 1970: 22), der „Ausbruch aus dem Begriffsfetischismus“ (ebd.: 56), wie er formuliert, unabdingbar. Andererseits lassen sich aus seinen Überlegungen auch mehrere Einwände gegen den anti-essenzialistischen Umgang mit Begriffen rekonstruieren. Ich möchte einen dieser Einwände besonders hervorheben.
Anti-essenzialistischem Denken wohnt die Hoffnung inne, sich durch einen radikalen, ja, dem Absoluten zutendierenden Befreiungsschlag ein für alle Mal der Fesseln entledigen zu können, die ihm der Begriffsgebrauch auferlegt. Tabula rasa heißt das Motto. Adorno hält dieses Ansinnen für illusorisch, ja, gefährlich. Er schreibt: „Denken […], das frisch-fröhlich von vorn anfängt, unbekümmert um die geschichtliche Gestalt seiner Probleme, wird erst recht […] Beute [der gesellschaftlichen Verhältnisse]“ (Adorno 1970: 26). Daraus ließe sich folgern: Anti-essenzialistisches Denken macht den Fehler, die Freisetzung aus tradierten Begriffen für den Hebel zur Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse zu halten – also anzunehmen, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht fortwirken, sind die Denkwerkzeuge erst einmal beiseitegeschafft, die aus ihnen hervorgegangen sind. Dem hält Adorno entgegen, dass gesellschaftliche Verhältnisse noch andere Vehikel kennen als etwa die Sprache. Sie können sich also auch (und manchmal gerade) in völlig neuen Begriffen ausdrücken können – die Vermutung ist vielleicht nicht zu weit hergeholt, dass der Kritische Theoretiker im ständigen Streben nach Erneuerung und theoretischer Innovation ein Fortwirken des kapitalistischen Geistes erkannt hätte.
Gegen überkommene gesellschaftliche Verhältnisse anzugehen erfordert schwere theoretische Arbeit, dem würde Adorno wohl zustimmen (wenn auch vielleicht nicht in diesen Worten). Doch jene Arbeit kann aus seiner Sicht nicht hauptsächlich darin bestehen, sich der alten Begriffe zu entledigen und sie durch ganz neue, unbelastete, sozusagen „reine“ Begriffe zu ersetzen. Man braucht tradierte Begriffe nicht zu übernehmen, um sie ernst nehmen und von ihnen lernen zu können – im Mindesten lernt man an ihnen eben etwas über die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat. Wischt man sie mitsamt ihrer Historie hingegen bloß beiseite, droht der neue Gedanke, entweder gesellschaftstheoretisch bewusstlos, oder aber recht schlicht zu werden. Hier setzt dann Enttäuschung ein.
Übrigens: Das ist genau der Grund, warum etwa Niklas Luhmann – ein Beispiel für einen konstruktivistisch, nicht aber anti-essenzialistisch zu verstehenden Theoretiker –, warum also Luhmann begriffstechnisch fundamental anders ansetzt. Aus seiner Sicht wäre es ein Rückschritt, fiele Theorie hinter die historisch mühsam errungenen Beobachtungskapazitäten zurück: „Läßt man nur eine [dieser theoretischen Distinktionen] außer Acht, wird man zurückkatapultiert in die alte, ewig unfruchtbare, ideologisch besetzte Diskussion über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ (Luhmann 1987: 289). Nicht die Reduktion der Distinktionen und Dichotomien, sondern, im Gegenteil, gerade deren affirmative Multiplikation, deren komplexe gegenseitige Absicherung und Stabilisierung bringt aus dieser Perspektive ein der Gegenwart angemessenes Denken hervor.
Damit komme ich zum Schluss. Ich hoffe, mein Vortrag wird nicht missverstanden: Mit dem hier im Anschluss an Adorno formulierten Einwand gegen anti-essenzialistische Begriffsbildung ging es mir nicht darum, mich der in den letzten Jahren verstärkt geäußerten Kritik an anti-essenzialistischer (bzw. konstruktivistischer) Theorie anzuschließen. Im Gegenteil: Diese Kritik verkennt in der Regel die enorme Erkenntnisleistung, die es bedeutet, aktiv gegen eingeschliffene Bestimmungen anzugehen, und sie unterschätzt die erheblichen theorietechnischen Vorkehrungen, die dazu nötig sind. Aus meiner Sicht ist es aber an der Zeit, dass anti-essenzialistisches Denken – diese mittlerweile über 40 Jahre alte Art des Theoretisierens – den Gestus theoretischer Avantgarde aufgibt und damit auch den Anspruch, eine völlig neue Art des Denkens darzustellen, die allein der Gegenwart adäquat sein kann. Denn dazu geht sie aus meiner Sicht, zum einen, zu achtlos mit den theoretischen Ressourcen der Vergangenheit um. Zum anderen bürdet sie den Erkenntnissubjekten (die als solche in der Regel im Obskuren verharren) ständige Innovationslasten auf, die diese kaum – jedenfalls nicht enttäuschungsfrei – bewältigen können.
Müsste ich abschließend noch eine Vermutung äußern, in welcher Richtung wir die Auseinandersetzung mit Begriffen in Zukunft weitertreiben sollten, so würde ich sagen: Die Versuche, der konstitutiven Doppelgesichtigkeit von Begriffen zu entkommen, müssen wir aufgeben. Stattdessen sollten wir jene Doppelgesichtigkeit radikal annehmen und viel genauer als bisher zu verstehen versuchen, wie und unter welchen Bedingungen Begriffe sozusagen „umkippen“, wann sie vom Erkennen ins Verkennen umschlagen, und auf welche Weise sich dieser schmale Grat produktiv abschreiten lässt. In einem meiner nächsten Vorträge werde ich sicherlich versuchen, genau dies weiter zu durchdenken.
Literatur
Adorno, Theodor (1970): Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1977): Rhizom. Berlin: Merve.
Douglas-Jones, Rachel; Sariola, Salla (2009): ‘Rhizome yourself’: experiencing Deleuze and Guattari from theory to practice. Rhizomes 19.
Haag, Christine (2003): Flucht ins Unbestimmte: das Unbehagen der feministischen Wissenschaften an der Kategorie. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1987): Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
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