Schon seit einiger Zeit arbeite ich an der Vorbereitung eines Projekts zu der Frage, welche Vorstellungen sich die Gesellschaft von ihren politischen “Eliten” macht. Aktuell scheint mir dieses Forschungsinteresse dabei relevanter zu sein denn je: Populismen haben Aufwind und damit auch die scharfe Polarisierung “des Volkes” auf der einen, “der politischen Elite” auf der anderen Seite (Spier 2010, S. 21). Wie sieht es aber jenseits der TrägerInnen solcherart populistischer Einstellungen mit unserem Bild von politischen Führungsfiguren aus? Unterscheidet es sich tatsächlich so klar von der populistischen Haltung, dass es als zentrales Definitionsmerkmal des Populismus herhalten kann? Auf der Basis der Standardergebnisse entsprechender Umfrageforschung – in denen BürgerInnen ihren politischen VertreterInnen immer wieder attestieren, “abgehoben” zu sein (vgl. Reiser 2018) – dürfen zumindest Zweifel aufkommen. Um dies genauer zu ergründen, dafür ist das Projekt gedacht.
In Vorbereitung dieses Vorhabens habe ich zwei kleine qualitativ-empirische Vorstudien in Form von Lehrforschungsprojekten durchgeführt:
Eines im Sommersemester 2016, das sich mit dem Bild politischer Eliten auseinandergesetzt hat, wie es in Facebook-Kommentaren auf Facebookseiten von SpitzenpolitikerInnen aufscheint. Hier zeigt sich in der Tat eine größtenteils extreme Sichtweise auf politische Eliten, die auf der Basis von Urteilen qua Behauptung als geradezu entmenschlicht erscheinen und denen die Fähigkeit und Motivation abgesprochen wird, vermeintlich eindeutige Wahrheiten zu erkennen und nach ihnen zu handeln. Nun wissen wir natürlich mittlerweile, dass im politischen online-Diskurs Extrempositionen in der Regel überproportional vertreten sind – möglicherweise sind es ja vor allem PopulistInnen im Geiste, die dort ihre Kommentare abgeben? In einem zweiten Lehrforschungsprojekt, das im vergangenen Wintersemester 2017/18 stattgefunden hat, haben wir uns daher der politischen Debatte jenseits der sozialen online-Netzwerke zugewandt. Wir haben also in acht Gruppendiskussionen, an denen jeweils vier bis fünf überwiegend StudentInnen (überwiegend der Sozialwissenschaften) zwischen 20 und 30 Jahren teilgenommen haben, die Frage gestellt: “Was kommt euch in den Sinn, wenn ihr an Politiker denkt?” Nachstehend versuche ich mich an einem kleinen Auswertungsessay – mal sehen, ob ich bei Gelegenheit zu einer ausführlicheren Auseinandersetzung komme, die Studierenden haben mit dem Material gute Arbeit geleistet.
1) Politik – eine geheime Sphäre? Bei der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial aus den Gruppendiskussionen fällt eines sofort auf: Die Sichtweise auf PolitikerInnen ist hier weit weniger extrem, die Urteile über sie sind weit weniger absolut, die Aussagen wirken weit weniger emotional (weniger Ausrufezeichen!!!), als dies etwa in den Facebook-Kommentaren der Fall war. Und doch: einige auffällige Gemeinsamkeiten (auf die ebenso auffälligen Unterschiede komme ich noch zu sprechen) sind erkennbar. Eine der bedeutsamsten Gemeinsamkeiten ist wohl die Vorstellung, dass es sich bei dem, was man gemeinhin “Politik” nennt, um eine vom Alltag abgehobene, uneinsehbare Sphäre handelt, die für nicht eingeweihte Außenstehende fremd bleibt. In Gruppe C verdichtet sich an einer Stelle intensiver Diskussion, was sich an zahlreichen anderen Stellen in anderen Diskussionen ähnlich zeigt:
“DiskutantIn 1: Ja, ich hab auch immer noch keine Ahnung, was so […] Politiker eigentlich treiben. D2: Den ganzen Tag, was die machen den ganzen Tag. […] D2: Ja, also nochmal, die einzigen Bilder, die ich von Politikern sehe, ist, wie sie aus irgendwelchen Autos steigen und irgendwo hingehen. D1: Oder in Handys tippen im Bundestag. D3: Ja. D2: Ja genau. D4: Und Händeschütteln. D2: Und dann halten sie mal ‘ne Rede. Also, alle, alle paar Monate mal. D3: Oder der bekannte Balkon bei den Sondierungsgesprächen, der verfolgt wurde. D4: Ja genau.” (Gruppe C Z1343-1365)
Obwohl ein Großteil der DiskutantInnen selbst Politikwissenschaft studiert, ist ein dominantes Gefühl der Ratlosigkeit erkennbar, wenn es um die Frage geht, was es eigentlich heißt, Politik zu machen (einen kleinen Werbeblock kann ich mir an dieser Stelle nicht verkneifen: genau darum ging es in meiner Doktorarbeit 🙂 ). Solche Ratlosigkeit erzeugt dabei noch nicht unbedingt eine negatives Urteil über PolitikerInnen (bei einzelnen DiskutantInnen ist auch dezidiert das Gegenteil der Fall), aber anhand der herangezogenen Beispielen trivialer Tätigkeiten zur Beschreibung des PolitikerInnendaseins (die im öffentlichen Diskurs durchaus häufig zu hören sind) – vom Handytippen über das Autoeinsteigen bis zum Balkonstehen – lässt sich vermuten, dass zumindest Skepsis dem Tun der PolitikerInnen gegenüber herrscht. Die einzige vermeintlich anspruchsvollere Tätigkeit, die in der Aufzählung auftaucht, eine Rede zu halten nämlich (wenn es auch “bloß reden, nicht handeln” bedeutet), wird nur “alle paar Monate mal” ausgeführt.
Dieses geäußerte Nichtwissen um das politische Tun wird kanalisiert in verschiedene Vorstellungen vom Verhältnis zwischen dem “normalen Bürger” (Gruppe B Z262) bzw. “dem kleinen Bürger” (Gruppe F Z42) bzw. “dem einfachen Mann auf der Straße” (Gruppe C Z1344) und der Sphäre, in der sich PolitikerInnen (sind das die unnormalen Bürger?! oder die großen Bürger?!) bewegen. Eine der derzeit sicherlich wirkmächtigsten Metaphern ist dabei die Vorstellung von der “Abgehobenheit” (Gruppe F Z42) der politischen Akteure. Einer der DiskutantInnen aus Gruppe B schildert seine Eindrücke folgendermaßen:
“Okay die interessieren sich eh nicht für mich, und ich bin eh nur ein kleiner Mensch und bin davon nicht richtig betroffen. Und dann oben rüber sind, sie stehen halt eine Ebene drüber, das ist so komplex und kompliziert, und man blickt da halt nicht durch als Bürger, und dann, ja, entfernt man sich davon und beschäftigt sich mit seinen eigenen Leben, und ja das ist dann halt, das bleibt dann halt so bestehen, dieses Verhältnis, dass es einfach zu zweit auseinandergerückt ist.” (Gruppe B Z669-674)
Diese Explikation der Vorstellung der Abgehobenheit des Politischen vom gesellschaftlichen Alltag als Ebenendifferenzierung erzeugt den Eindruck eines Höhenunterschieds, eines in Kraft gesetzten Verhältnisses von oben und unten. Anders als etwa häufig in den Facebook-Kommentaren der Fall, ist mit diesem Verhältnis von oben und unten im Zitat noch gar nicht notwendig ein Unterdrückungsverhältnis impliziert, eher wirkt es wie die neutrale Beschreibung des Tatbestandes einer unüberwindbaren Entfernung. Ich habe dazu ein Bild im Kopf: Wie es nämlich Waldameisen geht, wenn sie auf größere Waldbewohner wie Rotwild, Hasen oder Füchsen treffen – die einen haben mit den anderen wenig zu tun, verstehen nicht, was über ihren Köpfen bzw. unter ihren Füßen vor sich geht (das Unwissen geht also nicht nur von einer Seite aus; vgl. Gruppe C Z1343) und sind in der Regel füreinander nicht erreichbar. Aus der Sicht der Ameisen werden die Tiere über ihnen zu abstrakten “Figuren” (Gruppe E Z48), deren Verhalten für sie nicht weiter verständlich ist (und nur dann relevant ist, wenn ein Hirsch mit seinem Huf ins Nest stampft). Sie leben jeweils “in ‘ner anderen Welt” (Gruppe E Z50).
Doch neben dieser Vorstellung der Höhendifferenz zeigen sich im Material noch einige weitere interessante Metaphern die helfen, das offenbar nicht einfache Verhältnis von Politik und Gesellschaft in Begriffe zu fassen. Auf zwei dieser Metaphern möchte ich zumindest noch kurz zu sprechen kommen, weil auch sie einen instruktiven Eindruck von der in den Diskussionen immer wieder anzutreffenden Sicht auf Politik(erInnen) geben. Da wäre zum einen die Metapher des “Dahinter” (ha! auch dazu habe ich grad erst was geschrieben, zusammen mit Sebastian Schindler, erscheint auch demnächst… wen’s interessiert: hier lang), die sich etwa im Kommentar “man weiß halt einfach net, was dahintersteckt” (Gruppe B Z108) manifestiert. Statt mit einer vertikalen hat man es beim “Dahinter” im Vergleich zur “Abgehobenheit” mit einer horizontalen räumlichen Verschiebung zu tun. Das Politische erscheint damit – anders als bei der vertikalen Differenzierung – als prinzipiell zugänglich und erreichbar, doch es verbirgt sich (oder wird verborgen?) vor den Blicken der Außenstehenden. Und da wäre die Metapher der “Intransparenz” (vgl. Gruppe D Z 798), die ganz vom Sprachfeld des Räumlichen in dasjenige des Sehens wechselt und die Vorstellung evoziert, politischer und gesellschaftlicher Alltag wären durch eine Sichtblockade voneinander getrennt. Mit dieser Metapher im Kopf erscheint das Politische vielleicht sogar am Nahbarsten: alles was es bräuchte, um die Nähe zwischen Politik und Gesellschaft (wieder?) herzustellen, wäre die Entfernung jener Blockade. Dann wäre die Sicht frei. (Dass das mit der Transparenz dann doch nicht ganz so einfach ist, hat Leopold Ringel vor kurzem in seiner Doktorarbeit schön herausgearbeitet – siehe hier.)
Bemerkenswert ist bei alldem übrigens nicht zuletzt, dass die eigene Unklarheit über die Interna des Politischen überhaupt mit Hilfe solcher Metaphern kanalisiert werden muss – schließlich gibt es sicherlich unzählige Berufe, bei denen man in ähnlich trübem Gewässer stünde, müsste man darüber nähere Auskünfte geben. Was genau macht denn nun eigentlich den ganzen Tag ein Jurist?! In diesen Fällen wird das aber in der Regel als nicht weiter problematisch betrachtet. Doch während das Anderssein anderer Berufsgruppen häufig als nicht weiter bemerkenswertes, gelegentlich kurioses Faktum behandelt wird – “typisch Jurist”, “typisch Ingenieurin”, “typisch Handwerker” -, scheint das Anderssein der PolitikerInnen in einer fundamentaleren Weise als problematisch wahrgenommen zu werden. Sie scheinen weniger als eigene Berufsgruppe zu gelten denn vielmehr als ein eigener Schlag Mensch – in Mengen verbunden zu einer in sich geschlossenen “Politikerkaste” (Gruppe Z57). Das Fremdheitsgefühl mag dabei paradoxerweise gerade dadurch gesteigert werden, dass der Berufsalltag von PolitikerInnen – anders als beispielsweise derjenige von HandwerkerInnen – auf vermeintlich trivialen Alltagstätigkeiten (reden, Veranstaltungen besuchen, Kaffee trinken etc.) beruht. Wie kann schließlich etwas, das uns derart selbstverständlich und vertraut ist, in den Händen der PolitikerInnen auf einmal zu etwas Besonderem werden? So oder so, und egal welche Metapher man wählt, sind sich die meisten DiskutantInnen einig: es ist “eine riesen Distanz” (Gruppe B Z46) vorhanden.
2) Über die Zeitdimension politischen Tuns – PolitikerIn werden oder sein? Bei der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial aus den Gruppendiskussionen kann man dabei immer wieder auf die Frage stoßen, wie man denn nun zur Politikerin, zum Politiker wird – muss man bereits PolitikerIn sein, also von vorneherein bestimmte “typisch politische” Eigenschaften aufweisen, oder hat man es hier mit einem ganz normalen beruflichen Sozialisationsprozess zu tun, den prinzipiell jeder (wenn auch mit unterschiedlichem Talent) einschlagen könnte? In dieser Frage zeigt sich eine Ambivalenz, die auch in anderen Fragen immer wieder deutlich werden wird: Auf der einen Seite wird die – von der Forschung übrigens nicht gestützte – Vermutung geäußert, man müsse für den Beruf der PolitikerIn aufgrund seiner erheblichen Strapazen (etwa die Aufhebung des Privatlebens) “auch geschaffen sein” (Gruppe F Z801) – “das sind die meisten Menschen halt einfach nicht” (ebd.). Das Betreiben der Politik scheint also in der Vorstellung der DiskutantInnen durchaus bestimmte naturgegebene Eigenschaften vorauszusetzen. Auf der anderen Seite wird aber in vielen Äußerungen auch immer wieder deutlich, dass sich PolitikerInnen nach Ansicht der DiskutantInnen im Verlaufe des politischen Sozialisationsprozesses erheblich wandeln: “Also ich glaub’ schon, dass man Politik startet aus ‘nem Gedanken heraus, was verändern zu wollen. Aber ich denk’, des ändert sich dann im Laufe der Zeit” (Gruppe F Z467f.). Nicht den für das Politische geschaffenen Menschen zieht es hier in die Politik, “das System” (Gruppe D Z337) – offenbar gedacht als eigenaktive, in sich geschlossene Entität – verändert die Menschen bei Eintritt so, dass aus ihnen PolitikerInnen werden. Die Diskussion oszilliert zwischen der Konstante “Mensch” und der Konstante “System”.
Dass sich beide Momente jedoch nicht ausschließen, wird an folgender Aussage deutlich, die beides zusammenbringt: “Also ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand schafft, der nicht leicht psychopathische Züge hat, also…” (Gruppe C Z1491f.). Diese Aussage ist zweischneidig: Auf der einen Seite erkennt sie an, wie schwierig es ist, im “System” der Politik zu bestehen. Auf der anderen Seite honoriert sie nicht die Leistung derer, die es dort tatsächlich schaffen – vielmehr scheint politischer Erfolg für normal veranlagte, gesunde Menschen von vorneherein ausgeschlossen zu sein. Politischer Erfolg dient also als Verdachtsmoment einer krankhaften Veranlagung – die potentiell stigmatisierende Wirkung (ja, auch gesellschaftlich hochstehende Positionen lassen sich stigmatisieren) eines solchen Schlusses von Eigenschaften des gesellschaftlichen Feldes auf Eigenschaften der Individuen ist leicht zu erkennen.
Wann immer die Vorstellung überwiegt, das System verändere die Menschen, wird zugleich eine eindeutige Vorstellung von der Richtung transportiert, in die solche Veränderung zielt: den von Idealen geleiteten “Jungpolitikern” (Gruppe D Z335) kommen ihre Ideale mit der Zeit zunehmend abhanden – “also ich denk’ schon, […] dass viele Politiker irgendwann eher danach handeln, dass es ihrer Karriere weiterhilft, als dass wirklich sagen ‘des is mir wichtig'” (Gruppe F Z475-476). Diese Veränderung gilt offenbar als bedauerlich, auch wenn sie teilweise sogar als notwendig erachtet wird (vgl. Gruppe D Z341). Sie wird gedacht als eindimensionale Bewegung vom Pol der Ideale zum Pol der Macht, der auch als Abstieg, ja als Verlustbewegung zu begreifen ist: “Zunächst einmal würde ich sagen [jemand wird Politiker] aus Idealen, bis er dann später merkt, so langsam, dass er abgeschliffen wird, bis er ganz unten ist” (Gruppe C Z1462-1464). Eine Gleichzeitigkeit des Strebens nach Macht und des Verfolgens von Idealen scheint dagegen nicht denkbar zu sein. Auch weitere Effekte über diese Richtung der Veränderung hinaus werden nicht angesprochen, insbesondere bleiben mögliche positive Sozialisationseffekte des Eintritts in das politische System – wie es sie bei anderen Berufsfeldern ja durchaus gibt – unberührt. Gibt es sie nicht, in der Auffassung der DiskutantInnen? Das bleibt offen.
Neben den intraindividuellen Veränderungen wird die Bedeutung der politischen Zeitdimension stellenweise auch in Bezug auf intergenerationale Veränderungen in Anspruch genommen. Die jungen DiskutantInnen äußern immer wieder Thesen darüber, wie der politische Prozess noch vor einigen Jahrzehnten ausgesehen habe – wenn auch nur schwach, so scheint doch immer wieder die Vermutung durch, Politik hätte früher in bestimmten Aspekten besser funktioniert als dies heute der Fall ist. Das reicht von der leicht bedauernden Feststellung, “das war früher nämlich mal kantiger” (Gruppe H Z45) bis zu dem Hinweis darauf, dass man sich heute nur noch schwer “mit den Politikern überhaupt identifizieren kann” (Gruppe D Z1129), was als Grund dafür angeführt wird, “warum man vielleicht auch politikverdrossener wird” (ebd.). Diese These des historischen Wandels (und die These zunehmender Politikverdrossenheit, die sich erneut empirisch nicht bestätigen lässt) dienen als Kristallisationspunkt einer Utopie des Politischen, die auf nicht leicht näher zu bestimmende Weise besser laufen sollte, als sie es derzeit tut.
3) Die Ambivalenzen der Perspektive auf PolitikerInnen. Von der Sphäre der Politik über die Passung von politischer Sphäre und PolitikerInnen gelange ich nun endlich zu der Frage, wie denn nun die DiskutantInnen konkret die PolitikerInnen und ihr Tun beurteilen. Erneut ist die Perspektive hier sehr ambivalent.
Zwar lässt sich nirgendwo römische Begeisterung für den politischen Prozess erkennen. Doch äußern viele der DiskutantInnen durchaus Verständnis und mitunter auch “krassen Respekt” (Gruppe D Z383) für die politischen Akteure: Politik sei nun einmal “nicht so der Traumberuf” (Gruppe F Z780), man bekomme als PolitikerIn “ziemlich viel Frust von der Bevölkerung ab” (ebd. Z776), man stünde ständig in der Öffentlichkeit weswegen jeder Fehltritt registriert würde (ebd.), außerdem sei das einfach “ziemlich ziemlich viel Arbeit” (Gruppe E Z37) – man hätte “kein Leben mehr und keine Familie mehr und keine Zeit mehr für igendwas” (Gruppe D Z385f.). Eine DiskutantIn fasst zusammen: “Politiker leisten super viel, das kriegt man so als Normalbürger gar nicht so mit” (Gruppe G Z125f.). Dass es dabei auch mal PolitikerInnen gebe, mit denen man nicht so einverstanden sein könne, das sei ja wie überall – “es gibt immer schwarze Schafe” (Gruppe B Z518) – aber insgesamt seien doch die positiven Bemühungen erkennbar und würden überwiegen (ebd.). Immer wieder scheint ein Teil der DiskutantInnen es außerdem für nötig zu halten, das bloße Menschsein der PolitikerInnen hervorzuheben, als sei dies nicht selbstverständlich – “sind halt normale Menschen” (Gruppe F Z877), “das sind Menschen wie du und ich” (Gruppe G Z 2655). An dieser Stelle hat man manchmal das spekulative Gefühl, die geschichtlichen Verhältnisse hätten sich verkehrt: Während die Oberschicht im Laufe der demokratischen Revolution lernen musste, dass auch Menschen in niedrigeren gesellschaftlichen Positionen eben Menschen sind, scheint man nun die BürgerInnen daran erinnern zu müssen, dass auch die höheren gesellschaftlichen Ränge von Menschen besetzt werden.
Hier offenbart sich nun eine klare Front zu dem Teil der DiskutantInnen, die ein stark negativ gefärbtes Bild von PolitikerInnen besitzen – das ist zuvor schon bei der Sozialisationsrichtung im politischen System angeklungen. Statt Respekt ist hier Skepsis, dezidiertes Missfallen, stellenweise sogar Verachtung zu spüren. So stellt etwa eine DiskutantIn fest, dass PolitikerInnen “nie per se die Respektpersonen waren” (Gruppe A Z474), ein anderer meint, “also ich persönlich vertrau’ Politikern wahrscheinlich weeeniger” (Gruppe F Z832), woraufhin die anderen TeilnehmerInnen der Diskussion in Gelächter ausbrechen (dem Anschein nach, weil die Vorstellung eines unhinterfragt vertrauenswürdigen Politikers absurd erscheint). Diese verhaltenen Meinungen steigern sich teilweise in stark negative assoziierte Eigenschaften wie “machtgierig” und “karrieregeil” (Gruppe C Z1469) bis zur drastischen Abwertung von PolitikerInnen als “Witzfiguren” (Gruppe A Z7).
Trotz dieser Frontstellung aus teilweise sehr negativen und teilweise sehr positiven Perspektiven auf PolitikerInnen, ist in keiner der Diskussionen (zumindest nicht zu dieser Frage) ein offener Konflikt ausgebrochen. Das mag zum einen an der geringen Relevanz der Frage der Beurteilung von PolitikerInnen im Gefüge der Überzeugungen der TeilnehmerInnen liegen. Es mag aber auch an der konfliktmoderierenden Wirkung der Kopräsenz liegen, die in den sozialen online-Netzwerken natürlich fehlt. Viel häufiger auf jeden Fall als etwa in den zuvor untersuchten Facebook-Kommentaren finden sich vorsichtige, moderate und differenzierende Aussagen: “Ich finde, das kann man nicht generalisieren, es kommt immer [drauf an]” (Gruppe C Z1345). Den Beiträgen der DiskutantInnen ist darüber hinaus zu entnehmen, dass sich die Einstellung zu PolitikerInnen – insbesondere bei persönlicher Bekanntschaft mit PolitikerInnen, durch praktische Erfahrungen im politischen Prozess oder durch den Blick auf die Kommunal- statt die nationale Ebene – im Verlauf der Zeit durchaus noch verändern kann.
4) Fazit. Diese kleine essayistische Übersicht über das, was man in solchen Gruppendiskussionen zur Sichtweise auf politischen Eliten finden kann, wird dem Material sicherlich nicht gerecht. Aber vielleicht zeigt sie, dass es interessant sein kann, sich genau damit auseinanderzusetzen. Für mich sind diese Diskussionen vor allem deshalb interessant, weil hier zwar, wie zu erwarten war, politische Eliten weit weniger fundamental und weit weniger drastisch Ablehnung erfahren, als dies in den Facebook-Kommentaren der Fall war. Und doch wird vielleicht nicht fundamentale Ablehnung, dafür aber fundamentale Skepsis deutlich – selbst diejenigen, die politische Akteure verteidigen, verteidigen sie eben nur und werben vor dem Hintergrund der schwierigen beruflichen Bedingungen um Verständnis. Was es ist, das PolitikerInnen genau machen, was sie leisten, welche Qualitäten dieser Beruf erzeugt, davon ist so gut wie gar nicht die Rede. Ich denke, genau hier muss man ansetzen und sich fragen woher das kommt, und wie sich dieses Verhältnis vielleicht auch (tatsächlich, nicht gefühlt J ) historisch gewandelt hat.
Daneben gab es übrigens noch viele weitere interessante Aspekte, bei denen es sich lohnen würde, mal etwas genauer draufzuschauen – die Vorstellung zum Beispiel, die Aufgabe der Politik bestünde im Kern darin, “die Bedürfnisse der Bürger im größtmöglichen Maß zu befriedigen” (Gruppe B Z235-236; kommen die BürgerInnen da nicht ein bisschen triebgesteuert oder säuglingsmäßig rüber?). Oder auch das häufig auftauchende Muster, dass sich Studierende aus eher privilegierten Familien in Menschen aus weniger privilegierten Verhältnissen hineinversetzen und aus dieser Position über Politik urteilen: „wenn ich halt wirklich so leben würde, würd‘ ich mir wünschen, dass irgendjemand es ändern würd‘“ (Gruppe B Z347) – führt das nicht dazu, dass am Ende die Unzufriedenheit mit Politik überschätzt wird, weil durch ihre (eigentlich ja sehr positiven!) empathischen Akte jetzt alle unzufrieden sind? Das Verhältnis von Gesellschaft und politischen Akteuren bleibt spannend.
Literatur
Reiser, Marion (2018): Abgehoben und entkoppelt? Abgeordnete zwischen öffentlicher Kritik und Prfessionalisierungslogik. In: Brichzin, Jenni; Krichewsky, Damien; Ringel, Leopold; Schank, Jan (Hrsg.): Soziologie der Parlamente. Neue Wege der politischen Institutionenforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 111-134.
Spier, Tim (2010): Modernisierungsverlierer? Die Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa. Wiesbaden: VS Springer.
Interessant wäre ein Vergleich mit der Schweiz. Ein Land mit ausgeprägtem Föderalismus, in dem ca. 1/3 der Steuern an die Gemeinden gehen und in dem Politiker relativ wenig verdienen. Ein Land, in dem kritische Entscheidungen immer wieder vors Volk kommen. Ein Land, dessen grösste Partei, die SVP, gerne als Schweizer CSU bezeichnet wird und analog von ihren Gegnern behandelt wird, das aber trotz dem zu den weltoffensten Ländern Europas gehört.