Ich bin sehr gespannt auf die Tagung der DGS-Sektion Politische Soziologie, bei der ich – gemeinsam mit dem lieben Kollegen Sebastian Schindler – am 26. April einen Vortrag halten darf! Vor allem, weil wir hier zum ersten Mal versuchen, unsere sehr ählichen Forschungserfahrungen theoretisch produktiv zu formulieren. Diskutiert haben wir unsere Ideen (jenseits unserer Dyade) bisher noch nicht, umso interessanter die Rückmeldungen darauf… Hier, wen’s interessiert, der Abstract zum Vortrag:
“Wir nehmen den Aufruf zur Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Stellung der Politischen Soziologie zum Anlass, um uns mit einem Problem zu beschäftigen, das uns in unserer eigenen Forschung zu Phänomenen des Politischen immer wieder begegnet. Aus unserer Sicht steht die Politische Soziologie derzeit insbesondere vor zwei Schwierigkeiten. Erstens wird ihr Gegenstand zu weit begriffen, als dass sie einen konzentrierten Beitrag zum Verständnis einer eminent politisch bestimmten Gegenwart leisten könnte – wo als politiksoziologisch relevanter Gegenstand jeglicher politisch relevante Gegenstand verstanden wird (allen voran vielleicht die im Call zu dieser Tagung angeführte soziale Ungleichheit) wird ihr Zugriff beliebig. In unserem Beitrag setzen wir jedoch an der zweiten für uns erkennbaren Schwierigkeit an:
im Gegensatz nämlich zur Weite des Gegenstandsbereichs der Politischen Soziologie sind die theoretischen Perspektiven auf eben jenen zu eng gefasst. Dies allerdings nicht in dem Sinne, dass im Allgemeinen zu wenig unterschiedliche Theorieansätze zum Einsatz kämen. Nein, das Problem scheint uns tiefer in die Theoriearchitekturen eingelassen zu sein: Wir möchten die These aufstellen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der theoretischen Zugänge zum Politischen, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, von ein und derselben Erkenntnisfigur Gebrauch machen. Es ist dies die Erkenntnisfigur des „Dahinter“ – eine Figur, die Erkenntnis immer jenseits der unmittelbaren Sichtbarkeit des Erscheinungsraums im Aufdecken der verborgenen Essenz eines politischen Phänomens vermutet. Dieser These möchten wir in unserem Vortrag in drei Schritten nachgehen.
Im ersten Schritt zeigen wir, wie uns das gemeinsame Staunen über die sehr ähnlichen Reaktionen auf unsere sehr unterschiedlichen Forschungsprojekte überhaupt erst dazu geführt haben, diese These aufzustellen. So war Jenni Brichzin, die sich mit politischer Arbeit in Parlamenten beschäftigt hat (Brichzin 2016a, 2016b), in wissenschaftlichen (und alltäglichen) Diskussionen immer wieder konfrontiert mit dem Einwand, man könne das Treiben der PolitikerInnen in Parlamenten doch nicht begreifen, ohne das diesem Treiben zugrundeliegende Streben nach Macht zu erfassen. Und Sebastian Schindler wurde immer wieder nahegelegt, zum Verständnis des von ihm untersuchten zentralen Konflikts in den Welternährungsorganisationen (Schindler 2014a, 2014b) die jenen Konflikt bedingenden Interessen der jeweiligen Akteure zu rekonstruieren. Der Einsatz der Kategorien Macht und Interesse also sollte uns in die Lage versetzen, hinter die Kulissen der von uns betrachteten politischen Phänomene, hinter deren profane Oberfläche zu blicken, um so erst zur tatsächlichen Erkenntnis zu gelangen. Wir haben dann andere Wege gewählt, aber die Stereotypie der Einwände gegen unsere Herangehensweisen hat im Nachhinein unsere Aufmerksamkeit auf diese Einwände selbst gelenkt. An ihnen zeigen sich drei Momente des Misstrauens dem Phänomenbereich des Politischen gegenüber: ein Misstrauen der Oberfläche, dem unmittelbar Sichtbaren gegenüber, das in seiner erratischen Komplexität lediglich von den eigentlichen Ursachen ablenke. Ein Misstrauen den Zeugen gegenüber, denn den Verlautbarungen der politischen Akteure sei nicht zu trauen. Und der Drang zur Entlarvung, die erst den verborgenen manipulativen Gehalt des Untersuchten erkennbar mache.
Diese drei Momente des Misstrauens weisen auf jene Erkenntnisfigur des „Dahinter“ hin, die im Zentrum unserer These steht. Auffällig ist dabei, und das ist eine entscheidende Beobachtung: die erstaunliche Nähe dieser Figur zu verschwörungstheoretischen Einlassungen, wie sie in der politischen Kultur der Gegenwart eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen (vgl. Butter 2014). Auch hier werden komplexe Ausprägungen sozialer Realität auf einzelne, alles durchdringende und für den unbedarften Betrachter nicht zu durchschauende Wirkmechanismen zurückgeführt (vgl. Groh 1987, S. 6). Diese erstaunliche Parallelität von Vorwurf und Analyse, von verschwörungstheoretischem Verdacht und sozialwissenschaftlicher Theorie, sie lässt einen etwas genaueren Blick auf die Erkenntniswege gegenwärtiger Politischer Soziologie als angezeigt erscheinen.
Aber ist die an unsere Forschung herangetragene Kritik nicht einfach ein spontan geäußertes, vielleicht einfach aus einer alltagsweltlichen Perspektive vorgebrachtes Bedenken, das nichts damit zu tun hat, wie tatsächlich politiksoziologisch geforscht wird? In einem zweiten Schritt möchten wir diesen Vorbehalt entkräften, indem wir zeigen, dass die Erkenntnisfigur des „Dahinter“ systematisch in die Struktur zentraler, häufig zur Analyse herangezogener Theorien eingelassen ist. Dazu greifen wir auf zwei äußerst disparate Theoriebeispiele zurück, die jeweils auf einer der zuvor in Anschlag gebrachten Kategorien – nämlich Interesse und Macht – aufbauen: die Theorie rationaler Wahl auf der einen, die Kritische Theorie auf der anderen Seite. Die Zentralstellung des hintergründigen Erkenntnisprinzips zeigen wir an zwei Schlüsseltexten auf: In „The Methodology of Positive Economics“ (Friedman 1953) führt Milton Friedman in eine Erkenntnislogik ein, der es nicht um die Abbildung von Wirklichkeit geht, sondern die – aufbauend auf der explizit realitätsfernen „als ob“-Annahme der Interessegeleitetheit jeglichen sozialen Handelns – Gesetzmäßigkeiten formulieren möchte, um so Ereignissen eine Ursache zuweisen zu können. Diese Gesetzmäßigkeiten wirken im Rücken der Akteure und können nur an ihren Auswirkungen bemessen werden.
Die Parallelisierung dieses Textes mit dem zweiten Schlüsseltext, nämlich der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno 1988), erstaunt wahrscheinlich mitunter deshalb, weil Max Horkheimer und Theodor Adorno nicht zuletzt diese, den Naturwissenschaften abgeschaute Erkenntnislogik ins Zentrum ihrer Kritik stellen. Sie argumentieren, dass die quantifizierende und auf eindeutige Kausalität fixierte Vernunft Ausdruck eines die Moderne seit der Aufklärung durchwaltenden subsumtiven Geistes ist, der vom Besonderen absieht und nur noch das Allgemeine zu erkennen in der Lage ist – dadurch aber gerade die komplexe Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit verkennt. Dieser subsumtive Geist ist aber nichts anderes als Machtwirkung, ihr Resultat ist Herrschaft und damit das Gegenteil wahrer Aufklärung, weshalb es gilt, „der Macht endlich zu entraten“ (ebd., S. 49). Dies aber ist der Punkt, an dem die Parallele zur Erkenntnisfigur des Friedman-Textes aufscheint: So, wie das singuläre Prinzip der Interessen das Handeln der Menschen an deren Bewusstsein vorbei ausrichtet, so wirkt auch die Macht als hintergründiges, alles durchdringendes Prinzip der Ordnung von Wirklichkeit, das von den Menschen nicht erfasst wird. Beide vereinseitigen letztlich die Erklärung des Sozialen auf ein einzelnes Prinzip, das hinter dem Rücken der Akteure operiert und nur von einer abgehobenen Position der Beobachtung entlarvt werden kann.
Im dritten Schritt schließlich werden wir die Frage ausloten, wie eine Erkenntnislogik aussehen könnte, die nicht auf der Spaltung von sichtbarem Erscheinungsraum und dahinterliegender Essenz basiert. Wir begeben uns also auf die Suche nach Erkenntnismöglichkeiten des Politischen jenseits des verschwörungstheoretischen Verdachts. Erneut können wir uns hier auf zwei wichtige theoretische Ansätze stützen, deren sehr spezifische Erkenntnisfiguren bisher noch zu wenig systematisch herausgearbeitet wurden: die Ansätze von Hannah Arendt und Bruno Latour. An die Stelle der Metapher des „Dahinter“ setzen sie unterschiedliche alternative Erkenntnismetaphern, die zur Erklärung systematisch den Erscheinungsraum mobilisieren. Bei Arendt ist das die „Oberfläche“, deren Konturen es zu erfassen gilt (Arendt 2007), bei Latour sind es die „Landkarten“ des Sozialen, die nachgezeichnet werden müssen (Latour 2010). Beide damit angesprochenen Erkenntnisfiguren helfen dabei, die den verschwörungstheoretischen Verdacht kennzeichnenden drei Momente des Misstrauens zu überwinden und alternative Wege er Erkenntnis des Politischen aufzuzeigen. Mit unserem Vortrag möchten wir dazu beitragen, diese Wege sichtbar werden zu lassen. “
Literatur
Arendt, Hannah (2007): Vita Activa. Oder vom tätigen Leben. München: Piper.
Brichzin, Jenni (2016a): Politische Arbeit in Parlamenten. Eine ethnografische Studie zur kulturellen Produktion im politischen Feld. Baden-Baden: Nomos.
Brichzin, Jenni (2016b): Wie politische Arbeit Evidenz erzeugt. Eine ethnografische Studie zur kulturellen Produktion in Parlamenten. Zeitschrift für Soziologie 45, S. 410-430.
Butter, Michael (2014): Plots, Designs, and Schemes: American Conspiracy Theories from the Puritans tot he Present. Berlin: de Gruyter.
Friedman, Milton (1953): The Methodology of Positive Economics. Essays in Positive Economics, S. 3-43.
Groh, Dieter (1987): The Temptation of Conspiracy Theory, or: Why Do Bad Things Happen to Good People? Part I: Preliminary Draft of a Theory of Conspiracy Theories. In: Graumann, Carl; Moscovici, Serge (Hrsg.): Changing Conceptions of Conspiracy. New York: Springer, S. 1-14.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer.
Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Schindler, Sebastian (2014a): The Morality of Bureaucratic Politics: Allegations of ‘Spoiling‘ in a UN Inter-Agency War. Journal of International Organizations Studies 5, S. 59-70.
Schindler, Sebastian (2014b): Man versus State: Contested Agency in the United Nations. Millenium – Journal of International Studies 43, S. 3-23.
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