Weil ich mich momentan für die Stellung des Menschen in der Sozialtheorie interessiere, interessiere ich mich auch für Bruno Latour. Weil Latour ein Buch geschrieben hat, in dem er den Versuch unternimmt, seine – sich gängigen Anthropozentrismen verwehrende – Sozialtheorie systematisch darzulegen, habe ich das also jetzt mal gelesen (zumindest in großen Teilen). Und weil ich es wirklich in vielerlei Hinsicht inspirierend bzw. interessant – wie wir gleich noch erfahren werden eines der wichtigsten Erkenntniskriterien bei Latour – fand, versuche ich hier, meine Gedanken dazu ein wenig zu ordnen. Also: los geht’s.
Sehr konsequent entfaltet Latour in “Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft” seinen – ist es Sozialtheorie? ist es Sozialontologie? ist es Sozialmethodologie? – Ansatz zur Beschäftigung damit, was er als “Soziales Nr. 2” bezeichnet.
Den Übergang vom “Sozialen Nr. 1” – der “Soziologie des Sozialen” (S. 23) – zum “Sozialen Nr. 2” – der “Soziologie der Assoziationen” (ebd.) – stilisiert er dabei als einen Paradigmenwechsel im Stile des Übergangs von frühneuzeitlichen Äthertheorien zur Relativitätstheorie bei der physikalischen Erklärung der Ausbreitung elektromagnetischer Wellen: “Schließlich wurden die Physiker den Äther nur deshalb los, weil einer von ihnen stumpfsinnig genug war zu fragen, wie der kleine und der große Zeiger der Uhr ‘übereinander liegen’ konnten: Jedermann sonst wußte es, er [Albert Einstein] zog es vor, es nicht zu wissen. Mit allem gebotenen Respekt schlage ich vor, das gleiche mit diesem großen Mysterium des Sozialen zu tun. Jedermann scheint zu wissen, was es bedeutet […]. Aber ich nicht!” (S. 179) Eine direkte Linie von Einstein zu Latour wird an dieser Stelle sichtbar – größer geht es ja eigentlich nicht mehr.
Doch in bestimmter Hinsicht ist diese Darstellung gerechtfertigt – wenn auch nicht insofern, als sie die Geschichte aller bisherigen Soziologie als eine Geschichte des Fetischismus beschreibt (dazu weiter unten mehr, wenn es um den Versuch der expliziten Formulierung von Kritik geht). Die Darstellung als Paradigmenwechsel ist insofern gerechtfertigt, als hier tatsächlich ein dramatischer Shift in der Betrachtung des Sozialen (der sich über eine längere Zeit nachvollziehen lässt und natürlich nicht (allein) durch die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) begonnen wurde) beschrieben wird: Anstatt immer schon vor der eigentlichen Untersuchung zu wissen, womit man es zu tun hat, welche Akteure relevant, welche Faktoren entscheidend für das soziale Geschehen sind (wie es die “Soziologie des Sozialen” laut Latour macht), nimmt die “Soziologie der Assoziationen” genau von einem derartigen Zustand des immer-schon-Bescheidwissens Abstand und stellt sich auf einen Standpunkt der methodologischen Naivität. Wo dies nicht geschieht, so meint Latour, wo also das a priori-Wissen über Gesellschaft die zentrale Ausgangsbasis der Untersuchung ist, dort sei “das Soziale” nichts anderes als jener physikalische Äther (S. 82), der sich nie konsistent aus beobachtbaren Phänomenen erschließen lässt und an den doch jeder unhinterfragt glaubt. Der spezifische Äther des Sozialen besteht aus Kategorien (würde Latour in seinem Text nicht so vehement gegen die kritische Theorie argumentieren so könnte man sagen: aus verdinglichten Kategorien), welche die Soziologie als erfolgreiche Analysewerkzeuge tradiert hat. Dazu gehört zum ersten natürlich der Begriff des Sozialen selbst: häufig missverstanden als fixer “Stoff” (im Gegensatz etwa zum Markt, der ohne das Soziale rationaler, der Natur, die ohne das Soziale natürlicher, oder der Wissenschaft, die ohne das Soziale wahrer würde), der in eine Untersuchung als “sozialer Aspekt” eben mit einfließen kann oder auch nicht. Zum zweiten wendet sich Latour, neben vielen weiteren Kategorien, die man an dieser Stelle anführen könnte, insbesondere gegen den Begriff der Macht. Zu häufig dient er nämlich der blanco-Erklärung beliebiger sozialer Phänomene, die man zu erfassen meint, indem man sie auf das ubiquitäre (und damit aussagefreie) Faktum Macht reduziert. Latour appelliert: „Wir wollen nicht Ursache und Wirkung, nicht explanandum und explanans verwechseln. Daher ist es so wichtig, dabei zu bleiben, daß Macht, ebenso wie Gesellschaft, das Endresultat eines Prozesses ist und nicht ein Reservoir, Kapital oder Vermögen, das automatisch eine Erklärung bereitstellt. Macht und Herrschaft müssen hervorgebracht, gebildet, zusammengesetzt werden.“ (S. 110) Dieser Äther des Sozialen, jene Kategorien, werden also zum Erkenntnishindernis, insofern sie den Blick auf das eigentliche Phänomen verstellen – umso mehr, führt diese Form der Erklärung letzten Endes gar zur Verkehrung des Erkenntnisinteresses: statt um Einsicht in ein Phänomen geht es dann nur noch um die Errettung eines lieb gewonnenen Ordnungsinstrumentariums. Das aber macht die Lektüre sehr deutlich: die libidinöse Erfahrung, die sich mit der erfolgreichen Sortierung entlang bekannter Kategorien verbindet, ist nicht selbst schon Erkenntnis. Diese Einsicht ist gemeint, wenn Latour betont, “daß ANT zunächst einmal ein negatives Argument ist.” (S. 245)
Es gilt also, sich von diesem Erkenntnishindernis, vom “repetitiven Ideom des Sozialen” (S. 96) zu verabschieden. Nur so kann man der scherenschnittartigen Vereinseitigung entgehen, die es unmöglich machen, die “buntscheckigen Existenzweisen” (S. 194) bzw. das “komplexe Imbroglio” (S. 233) des Sozialen zu erfassen. Damit dies gelingen kann, führt Latour selbst eine Reihe äußerst abstrakter Begriffe ein (denn ohne Begriffe geht es ja doch nicht; siehe Kritik weiter unten) – er nennt sie seine “Infrasprache” (S. 54): Statt der “Gesellschaft” gilt es, “Kollektive” zu “versammeln” (statt sie zu “erklären”). Um herauszufinden, was diese Kollektive sind bzw. was sie in ihrer “Existenzweise” ausmacht (denn das wissen wir ja in unserer Haltung methodologischer Naivität nicht), müssen die Forschenden genauestens auf Momente der Aktion, auf Ereignisse, also darauf achten, dass und wo “etwas passiert”. In diesem Sinne versteht sich Latour auch selbst als “ein naiver Realist, ein Positivist” (s. 270), der die Empirie als unabdingbaren Dreh- und Angelpunkt der Erkenntnissuche begreift: “Ist berührt, bewegt zu werden, das heißt, von unseren Informanten in Bewegung gesetzt zu werden, nicht genau das, was man unter einer Untersuchung verstehen sollte?” (S. 85) Nimmt man also Erkenntnis ernst, so muss man auch den Gegenstand der eigenen Forschung ernstnehmen in dem Sinne, dass man sich von ihm überraschen lassen kann, dass man ihm zutraut, etwas Neues zu offenbaren – was wäre sonst der Sinn der Untersuchung? Anstelle der Sortierung in bekannte Kategorien tritt also der empirische Nachvollzug eines Geschehens unter der Maßgabe, Momente der Überraschung aufzuspüren. Diese Momente der Überraschung führen zu den Aktionszentren des beobachteten Phänomens (und genau da, so meint Latour, müsse man als Soziologe hin), und damit auch zu den Akteuren, die bei Latour bestimmt sind als jegliche “Figurationen” (also als zusammengehörig wahrnehmbare Komplexe aneinander ausgerichteter Elemente, die nicht notwendig “Menschen” sein müssen), die eine “Kraft” auf das Geschehen ausüben, die etwas anstoßen, das ohne sie nicht angestoßen würde, die also einen “wie auch immer gearteten Unterschied machen” (S. 264). Warum schließlich, so fragt Latour nicht ganz zu Unrecht, sollte man sie sonst “Akteure” nennen? Die zentrale Leistung soziologischer Untersuchung besteht dann darin, die tatsächlichen Akteure aufzuspüren und nachzuvollziehen, wie sie ihre Aktionen über “Assoziationen” verteilen und so das Soziale erst hervorbringen, von dem die “Soziologie des Sozialen” immer schon ausgegangen war.
Vielleicht ist bereits erkennbar geworden, dass Latours Einsicht damit sehr weit über die bloße Erweiterung des soziologischen Beschreibungsraums um das hinausgeht, was bisher als das natürliche Substrat, als bloße Materie, als “stumme Objekte” behandelt wurde. Mir ist das erst beim Lesen klargeworden, aber das muss wohl nicht weiter verwundern: üblicherweise wird ja Latour von nicht-ANT-SoziologInnen wie der seltsame Onkel dritten Grades behandelt, der mit Stühlen und Ziegelsteinen spricht. Das mag auch daran liegen, dass Latour die eigentliche Leistung – im Gegensatz zur Erweiterung des sozialen Beschreibungsraums um Objekte – kaum expliziert. Die eigentliche Leistung besteht aus meiner Sicht nämlich in der Skizze einer eigentümlichen und, wie ich finde, sehr spannenden Erkenntnistheorie. Es handelt sich dabei um eine Theorie, die konsequent vom Moment der Überraschung, vom aufmerkenden Interesse des Erkenntnissubjekts ausgeht. Sie kehrt damit den gängigen erkenntnistheoretischen Argumentationsgang um: Üblicherweise sind Erkenntnistheorien so angelegt, dass sie Faktoren und Prozesse benennen, die gegeben sein müssen, damit Erkenntnis – dieses widerspenstige und scheue Reh – hervorgelockt werden kann. Latour hingegen setzt anders an: für ihn ist Erkenntnis im Prinzip allgegenwärtig, sie blitzt auf in eben jenen Momenten der Überraschung, des Aufhorchens, des erwachenden Interesses. Die entscheidende Frage ist damit für ihn nicht: wie ist Erkenntnis möglich? Sondern vielmehr: wie kann ich sie nachzeichnen und damit stabilisieren? Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist also die Fähigkeit, sich überraschen zu lassen. Diese Fähigkeit hängt von zwei Momenten ab: erstens vom Vorhandensein einer Erwartungsfolie (idR theoretische Vorannahmen), deren Voraussagen enttäuscht, deren Annahmen vom überraschenden Ereignis konterkariert werden können – Latours Erkenntnistheorie ist Kontrasttheorie. Und zweitens von der Lockerheit eben jener Erwartungsfolien, denn sitzen sie zu straff, machen sie Überraschung unmöglich. Dies ist der Grund für Latours Plädoyer für “viele, sich verschiebende Bezugsrahmen” (S. 55), die man für eine Untersuchung einsetzen sollte – um so das Potential für immer neue Überraschung bereitzuhalten. Damit ist Latours Erkenntnistheorie jedoch nicht nur Kontrasttheorie, sie ist auch Pluralismus-, oder “Vielfalts-” (S. 95), oder “Unbestimmtheits-” (S. 105) Theorie: soziale Prozesse lassen sich in ihrer vielfältigen Potentialität nie adäquat, nie “objektiv” auf einen Faktor zurückführen, ja, ein solches Vorgehen widerspräche geradezu der Latour’schen Vorstellung von Objektivität (und hier befindet sich Latour in erstaunlicher Nähe zu Hannah Arendt), die auf einer “virtuelle[n] Versammlung der Vorbringer von Einwänden” (s. 231) beruht. So erklären sich auch die drei Callon’schen Prinzipien der soziologischen Beschreibung: das “agnostische Prinzip”, das “Symmetrieprinzip” und das “Prinzip der freien Assoziation” – sie sollen der Untersuchung immer genügend Offenheit lassen, um Überraschung möglich zu machen. Indem sie also Erkenntnis konsequent vom Erkenntnisimpuls des empirischen Ereignisses abhängig macht, ohne aber die Wesenheit dieses Ereignisses a priori und absolut ontologisch verorten zu wollen, handelt es sich um eine radikal relativistische und konstruktivistische Theorie. Folgt man Latour, so bedeutet das jedoch nicht ihre Disqualifikation, nicht ihr Abdriften in bloßen Subjektivismus, nicht die unwiderbringliche Aufgabe wissenschaftlicher Objektivitätskriterien. Dieser Relativismus ermöglicht Objektivität erst, indem er sich viel radikaler als bisherige Zugänge vom Erkenntnisgegenstand abhängig macht. Das Gegenteil des Relativismus ist entsprechend nicht der Objektivismus – “das Gegenteil des Relativismus [ist] der Absolutismus.” (S. 157)
Drei Kritikpunkte, oder viel besser: persönliche Anstöße zum Weiterdenken, möchte ich gegenüber den Latour’schen Überlegungen anführen. Der erste dieser Punkte schließt direkt an die erkenntnistheoretischen Überlegungen an, denn: die Rolle des Forschenden, der ja Mensch und Erkenntnissubjekt zugleich ist, bleibt seltsam opak, wird – da ja so massiv gegen die Sonderstellung des Menschen angeschrieben wird – wohl schlicht verschwiegen. Möglicherweise ist das auch der Grund dafür, dass die erkenntnistheoretischen Implikationen des Zugangs überhaupt nicht thematisiert werden. Die unklare Stellung des Menschen im Erkenntnisprozess wird auch dort deutlich, wo Latour von “textlichen Berichten als Labor des Sozialwissenschaftlers” (221) spricht – sind diese textlichen Berichte nicht an Sprache gebunden und damit an den Menschen? Möglicherweise reicht hier der lapidare Hinweis, dass keineswegs einer “absurden Symmetrie” zwischen Mensch und Objekt das Wort geredet würde, und der Fußnotenverweise, dass “Mensch und Objekt […] klar unterschieden” (S. 130) sind doch nicht ganz aus. Die Stellung des Menschen im Erkenntnisprozess zumindest muss thematisiert werden.
Der zweite Anstoß zum Weiterdenken schließt wiederum an den ersten an: Nachdem Latour die Stellung des Menschen also ungeklärt lässt, weil er ihm keine Zentralstellung verpassen, keine als problematisch erachtete Sonderstellung zuweisen möchte, kann er nicht erklären, warum sich ANT-Soziologinnen für im common sense-Sinn soziologisch relevante Gegenstände interessieren. Denn auch bei Untersuchungen von ANTlern sind immer irgendwie Menschen beteiligt – warum eigentlich? Genausogut könnte man sich für die Assoziationen, die heterogenen Verbindungen einer chemischen Reaktion interessieren, auch hier “passiert” schließlich etwas, und nicht notwendig unter Beteiligung von Menschen. Latour kokettiert damit, dass es keinen prinzipiellen Unterschied gebe zwischen Soziologen im ANT-Sinn und Künstlern, Ingenieuren, Handwerkern, Architekten, Managern etc. Aber in der Praxis gibt es ihn eben doch, ANTler betreiben soziologische Untersuchungen und bauen keine Häuser, malen keine Bilder, setzen keine Maschinen zusammen. Es ist verständlich, dass Latour hier keine a priori-Kriterien der Unterscheidung einführen möchte, denn solche Kriterien lassen sich natürlich immer anfechten. Aber: macht man es sich nicht zu leicht, wenn man das offen lässt? Geht man nicht einfach der Kritik aus dem Weg, die auf notwendig partikulare Festlegungen folgt? Dafür müsste man aber Kategorien anlegen, und dann liegt wohl wieder der Vorwurf nahe, man dürfe “Sozialtheorie nicht mit Kantianismus verwechseln” (S. 190). Aber man kann auch nicht so tun, als hätten Kategorien mit Erkenntnis überhaupt nichts zu tun.
Und man kann auch schlecht so tun (bzw. man macht sich dann etwas unglaubwürdig), als hätte Immanuel Kant keine Erkenntnis ermöglicht, als wäre das, was er erkannt hat, nicht auch “interessant” (oder zumindest: einmal interessant gewesen). Der dritte Anstoß zum Weiterdenken bezieht daher auf die Art und Weise, in der Latour über frühere soziologische (und philosophische) Zugänge spricht. Wie oben schon erwähnt, scheint Latour die ganze bisherige Geschichte der Soziologie als eine Geschichte des Fetischismus zu begreifen – da man eben die (immer gleichen) Konzepte, die man zu dessen Erklärung an das Soziale heranträgt, zum Zwecke der Erklärung mit quasi-magischen Eigenschaften auflade. Die so – im Mindesten grob verkürzt dargestellte – soziologische Herangehensweise hält er für “gescheitert” (S. 166). Ist es kleinlich, wenn einem eine solche Einschätzung hin und wieder als etwas überheblich aufstößt? Im Einzelnen würde Latour ja dann wahrscheinlich doch sagen, dass da durchaus viel Interessantes dabei ist. Dass auch Kant natürlich nicht blöd war. Und: dass vieles als Kontrast für seine eigene Erkenntnis dient, die erst vor diesem Hintergrund ermöglicht wird. Leicht paradox wird es aber an den Stellen, wo er den klassischen (und insbesondere den kritischen) Soziologinnen vorwirft, ihre Forschungsobjekte wie Idioten zu behandeln, so zu tun, als sähen und wüssten sie mehr als die Akteure selbst (S. 59). Müsste er dann nicht auch ein Stück weit die wissenschaftlichen Akteure ernstnehmen in ihrem Gefühl, durch ihre Verfahren Erkenntnis über die soziale Welt zu generieren? Auch der gemeine Wissenschaftler, so möchte man hin und wieder vorsichtig anmerken, ist in der Regel kein Idiot.
Für mich bleibt viel Spannendes zum Weiterdenken, und ich freue mich sehr darauf. Im Moment bleibt das Gefühl, dass – würden die obigen Fragen ein Stück weit mehr geklärt – auch die Darstellung des Theorieprogramms klarer würde. Man wäre vielleicht nicht mehr so stark auf literarische Immersion, auf die evidenz- und identitätserzeugende Wirkung einer Zwischenerzählung angewiesen, sondern könnte den direkten Weg gehen: über Erklärung. Aber wenn man den direkten Weg gehen will, ist es vielleicht schon nicht mehr ANT.