Kritik anti-essenzialistischer Soziologie

DFG-Projekt (Projektnummer 443532822)

ab 2020

Das Forschungsprojekt geht von der These aus, dass Gesellschaft gegenwärtig in einer Geltungskrise steckt. Demnach ist unklar geworden: Welchen Aussagen von wem kann man wann und unter welchen Bedingungen folgen? Zwar ist das Ringen um gültige Aussagen gesellschaftlich natürlich nichts Neues, politische Auseinandersetzungen etwa drehen sich von jeher genau darum. Im Rahmen der Debatten rund um das „postfaktische Zeitalter“ scheint solchem Ringen jedoch eine neue Qualität zuzukommen: Nicht nur, dass es schwieriger geworden ist, eine Einigung zu erzielen – das Ziel der (beispielsweise argumentativen) Einigung selbst scheint an Relevanz verloren zu haben.

Vor diesem Hintergrund kommt der Auseinandersetzung mit anti-essenzialistischem Denken eine besondere Bedeutung zu, denn entsprechende Wissenschaftsdiskurse werden immer wieder mitverantwortlich gemacht für die Ausbreitung postfaktischer Tendenzen in der Gegenwart.

Mit dem Begriff des Anti-Essenzialismus lässt sich dabei ein bestimmtes (man könnte auch sagen: ein paradigmatisches) Wissenschaftsverständnis bezeichnen, das in viele gegenwärtige sozialwissenschaftliche Theorierichtungen eingelassen ist. Bemerkenswert ist dieses Wissenschaftsverständnis, weil es die klassische Vorstellung davon, was wissenschaftliche Erkenntnis leisten soll, geradezu verkehrt: Anti-essenzialistisches Denken will eben nicht eindeutige Bestimmungen, absolute Wahrheiten über eine Welt hervorbringen, die es doch als prinzipiell unbestimmt (und nicht endgültig bestimmbar) begreift. Anstelle dessen geht es darum, der gesellschaftlichen Tendenz zur Vereindeutigung, zur Absolutsetzung einmal getroffener Bestimmungen – „die“ Männer bzw. Frauen, „die“ Fremden, „die“ Modernisierung, „der“ Fortschritt – entgegenzuwirken und aufzuzeigen, wie vorhandene Freiheitsgrade erst im gesellschaftlichen Prozess beschränkt oder beseitigt werden. Das Erkenntnisziel lautet damit nicht, herauszufinden, wie die Welt wirklich ist. Sondern: Erkenntnis liegt demnach in der (immer neu am Gegenstand zu aktualisierenden) Einsicht, dass die Welt so, wie sie gegenwärtig erscheint, nicht notwendig ist. Genau hierin, in der Verabschiedung vom Erkenntnisziel der eindeutigen Bestimmung, liegt – so meinen die Kritiker*innen anti-essenzialistischer Zugänge – der Samen für das „postfaktische Zeitalter“.

Auf der einen Seite findet sich anti-essenzialistisches Denken derart grundsätzlich infrage gestellt, während es auf der anderen Seite zugleich mit großen gesellschaftlichen Emanzipations- und Demokratisierungsschüben in Verbindung gebracht wird. Wie also weiter mit anti-essenzialistischem Denken? Das Projekt trägt zur Beantwortung dieser Frage bei, indem es die Konturen, Potentiale und Grenzen des anti-essenzialistischen Wissenschaftsverständnisses – innerhalb einer bestimmten Disziplin, der Soziologie – herausarbeitet. Im Sinne einer immanenten Grenzbestimmung unternimmt es also eine Kritik anti-essenzialistischer Soziologie. Drei Teilprojekte greifen ineinander, um dieses Ziel zu erreichen: erstens leistet eine historische Rekonstruktion, insbesondere entlang disziplinprägender wissenschaftstheoretischer Debatten, eine Genealogie anti-essenzialistischer Denkfiguren in der Soziologie; zweitens ermöglicht die theoretische Rekonstruktion entlang poststrukturalistischer, systemtheoretischer, neopragmatistischer und netzwerktheoretischer Theoriezugänge ein Ausloten der zentralen Dimensionen und Streitpunkte anti-essenzialistischer Soziologie; drittens schließlich lässt sich mithilfe der empirischen Rekonstruktion des politischen Diskurses rund um das „postfaktische Zeitalter“ (in der deutschen, britischen und US-amerikanischen Medienlandschaft zwischen 2015 und 2018) erkennen, welche Vorstellungen von Wissenschaft, Wahrheit und Erkenntnis derzeit gesellschaftlich kursieren – und wie diese wiederum auf die Soziologie zurück wirken.

Publikationen:

Brichzin, Jenni (i.E.): Epistemische Verantwortung? Überlegungen zum Verhältnis von Denk- und Gesellschaftsordnung in Zeiten einer Wahrheitskrise. In: Jung, Simone; Hobuß, Steffi; Kramer, Sven (Hrsg.): Der Kampf um die öffentliche Meinung zwischen Fakt und Fiktion.

Brichzin, Jenni (i.E.): Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis. Ein Versuch über die Grenzen anti-essenzialistischen Denkens. In: Cress, Torsten; Murawska, Oliwia; Schlitte, Annika (Hrsg.): Posthuman? Neue Perspektiven auf Natur/Kultur. Brill/Fink Verlag.

Vorarbeiten:

Brichzin, Jenni (2019): Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis. Überlegungen zu anti-essenzialistischen Tendenzen der Gegenwart und ihren Grenzen. Tagung “Jenseits des Menschen? Posthumane Perspektiven auf Natur/Kultur” in Mainz. Hier zum Manuskript.

Brichzin, Jenni (2019): Dialektik anti-essenzialistischen Denkens? Überlegungen zum Zustand der Vernunft im ‘postfaktischen Zeitalter’. Generationentagung der DGS Sektion Soziologische Theorie “Doing Theory” in Bremen. Hier zum Manuskript.

Brichzin, Jenni; Schindler, Sebastian (2018): Warum es ein Problem ist, immer ‚hinter‘ die Dinge blicken zu wollen. Wege politischer Erkenntnis jenseits des verschwörungstheoretischen Verdachts. Leviathan 46 (4), S. 575-602.

Brichzin, Jenni (2018): Netzwerkforschung. Rezension des Sammelbandes: Löwenstein, Heiko; Emirbayer, Mustafa (Hrsg): Netzwerke, Kultur, Agency. Problemlösungen in relationaler Methodologie und Sozialtheorie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.

Ein Gedanke zu „Kritik anti-essenzialistischer Soziologie

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert