Schon seit einiger Zeit ist ja völlig klar: es muss etwas passieren. Seit Jahren schon gibt es erstarkende populistische Strömungen in ganz Europa, aber erst mit dem Aufschwung von pegida habe ich begriffen, dass das nicht nur zu vernachlässigende Randerscheinungen sind. Dann diese Häufung von verstörenden Entwicklungen: die Entmachtung des Verfassungsgerichts in Polen, der Brexit, die Geschehnisse in Ungarn, neulich erst die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit dort, jetzt der Angriff auf die Gewaltenteilung in der Türkei, der versuchte Staatsstreich in Venezuela usw. Vor allem aber der Sieg des Populismus in den USA hat mich, wie viele andere auch, endlich begreifen lassen: wenn das im Mutterland der in die Praxis umgesetzten Massendemokratie möglich ist, welche unserer großen freiheitlichen Errungenschaften ist dann noch sicher? Jetzt kann, jetzt darf sich auch die Wissenschaft nicht mehr raushalten. Das ist vielen wohl auch bewusst geworden – daher der “March for Science”, der gestern an verschiedenen Orten der Welt stattfand. Und ich möchte auch mehr tun, aktiv werden. Deshalb beteilige ich mich in meinem Stadtteil an einer Initiative: “Berg am Laim für Demokratie, Freiheit & Europa.” (Weil man nie zu klein ist, große Werte zu vertreten – wer Lust hat, in den ersten – bisschen pathetisch geratenen – Programmentwurf zu schauen, der klicke hier). Aber nicht nur Aktivität nach außen ist nötig, auch nach innen hin muss ich immer wieder meine Gedanken ordnen – weil: einfach ist das ja alles nicht. Also versuche ich hier mal, sechs (politische?) Thesen zur Frage zu entwickeln: was in der derzeitigen Diskussion möglicherweise falsch läuft.
THESE 1: Demokratie muss nicht bewahrt, sie muss vorangetrieben werden. Immer, wenn es in der öffentlichen Debatte um Demokratie geht, dann schlägt einem ein konservativer Diskurs entgegen: erhalten, was besteht; bewahren, was wir erreicht haben. Auf der einen Seite stimme ich dem zu – das mangelnde historische Bewusstsein für die extreme historische Leistung die es bedeutet hat, ein friedliches, auf gleichen (Beteiligungs-)Rechten für alle basierendes politisches System durchzusetzen, halte ich für ein riesiges Problem. Auf der anderen Seite aber wird gerade diese Konservativität wiederum selbst zum Problem: hat nicht auch die Gegenwart ihre eigenen Schwierigkeiten? Wie sieht es denn aus mit der praktischen Gleichberechtigung, was ist mit der aufklaffenden Ungleichheitsschere? Und können wir, mit Blick etwa auf digitale Kommentarspalten, wirklich sagen, dass wir zu demokratischen Umgangsformen gefunden hätten? Demokratie ist – anders als etwa Colin Crouch in seinem einflussreichen Buch “Postdemokratie” (endlich bin ich dazugekommen, es zu lesen!) zu suggerieren scheint – keinesfalls irgendwo in den 1970er Jahren auf ihren Zenit gelangt. Der konservative Diskurs freilich macht vor diesem Hintergrund Sinn: erklimmen wir ihn wieder, diesen verlorenen Gipfel, möchte er uns sagen. Aber das ist ja allenfalls ein Zwischengipfel, die demokratische Bewegung ist ja hinten und vorne noch nicht an ihr Ende gelangt. Und mit diesem konservativen Ton hat man auch kaum eine Chance, gegen die populistischen Trompetentöner der einfachen Antworten anzukommen. Denn wie macht man es jemandem, der in der Gegenwart Probleme erkennt, verständlich, die Lösung liege im Bewahren des Bestehenden? Nur Visionen einer freiheitlichen, demokratischen Zukunft können den weltentzündenden Dystopien etwas entgegensetzen. So wichtig es ist, und so sehr wir damit zeigen, dass wir aus der Vergangenheit gelernt haben: gegen Rassismus, gegen Populismus, gegen Ungleichheit zu sein allein reicht nicht aus. Neue Ideen, neue Visionen müssen her.
THESE 2: Indem wir uns zu sehr auf die Wirtschaft konzentrieren, verlieren wir die Demokratie aus den Augen. Der neue US-amerikanische Präsident ist im Wahlkampf nicht unbedingt durch sein ausgefeiltes Programm aufgefallen. Eine Konstante gab es dann aber doch: jobs, jobs, jobs. Der Kandidat macht sich über Minderheiten lustig? Naja, immerhin verspricht er wirtschaftlichen Aufschwung. Der Kandidat ruft mit sexistischem Verhalten Empörung hervor? Aber wenn er doch so ein ausgefuchster Businessman ist! Der Kandidat zeigt keinerlei Interesse an intensiver Auseinandersetzung mit Sachverhalten und hält seine eigenen Gefühle für den besten Ratgeber? Dieser Instinkt ist es doch, der das wahre Deal-Genie ausmacht… Was man bei der amerikanischen Präsidentschaftswahl in schmerzlicher Deutlichkeit miterleben musste, war die Entwertung fast aller anderen Werte jenseits einer starken (nationalen) Wirtschaft. Es war auch die Entwertung der Demokratie. Einerseits ist das auch wieder durch den Status der absoluten Selbstverständlichkeit zu begreifen, den demokratische Privilegien mittlerweile in unseren Köpfen erreicht haben. Andererseits aber mag auch ein zu unmittelbares in-Eins-Denken von Politik und Wirtschaft dazu beigetragen haben. Darin sind sich das rechte und das linke politische Spektrum (wenn auch in sonst kaum etwas) auf verquere Weise einig: die Rechten bringen Politik und Wirtschaft in unmittelbare Verbindung, weil Politik vor allem anderen wirtschaftliches Wohlergehen gewährleisten soll. Die Linken bringen Politik und Wirtschaft in unmittelbare Verknüpfung, weil sie das Wirtschaftssystem, den Kapitalismus, für den Grund der Misere von Politik und Gesellschaft halten. Wenn sich aber alles um die Wirtschaft dreht, gerät der demokratische Diskurs als eigenständiger Diskurs aus dem Blick. In einem meiner Uni-Seminare (wir hatten Karl Marx behandelt) sind wir in der Diskussion irgendwann auf die Frage geraten, ob nicht, was früher Religion war, in gewissem Sinne nun die Wirtschaft ist: “Opium fürs Volk” nämlich, also ein Mittel Abstumpfung der Menschen für die Wahrnehmung ihrer tatsächlichen Lebensbedingungen. Das trägt nicht ganz, aber eine interessante Überlegung ist das doch, finde ich.
THESE 3: Politik ist nicht schmutziges Machtgeschäft, sondern die Freiheit, Einfluss auf unser Zusammenleben zu nehmen. Wollen wir Demokratie vorantreiben, so müssen wir uns also der Politik zuwenden. Aber ihhh bäh: Politik? Vor nicht allzulanger Zeit bin ich über einen wunderbar bezeichnenden Facebook-Kommentar gestolpert: “Warum nur ist heute alles mit Politik verseucht?!” Politik also, eine Seuche. Meinem Eindruck nach denken nicht wenige Menschen so, am liebsten möchte man von der Politik unbehelligt bleiben, sich mit ihr nicht beschmutzen. Die große Hannah Arendt hat diese Haltung scharf problematisiert – eine Haltung nämlich, die in Politik nur noch ein notwendiges Übel erkennen kann. Arendt selbst begreift stattdessen Politik als die dem Menschen eigene Freiheit, die Form des Zusammenlebens selbst mitgestalten zu können. Das unterscheidet (um einen etwas dümmlichen Vergleich zu wählen) den Menschen von der Ameise: auch die Ameise kennt schließlich Machtkämpfe, aber Politik ist ihr nicht möglich. Deshalb werden Arbeiterinnen immer Arbeiterinnen sein und Königinnen immer Königinnen. Politisch wird es also in dem Moment, in dem wir uns der Form des Zusammenlebens zuwenden, dieses hinterfragen, uns sozusagen auf die gesellschaftliche Metaebene begeben. Mit Arendt lässt sich also Politik nicht vor allem als Machtgeschäft begreifen (Macht ist ja auch überall, nicht nur in der Politik: selbst in unseren Partnerschaften, selbst im Verhältnis zu unseren Kindern. Macht gehört zum Leben dazu, sie ist sein selbstverständlicher Bestandteil). Aber woher dann das raumgreifende Ressentiment gegenüber der Politik? Der Versuch, sich in die Gestaltung der Gesellschaft einzubringen erfordert Mut, man gibt sich als Person zu erkennen, die für etwas Bestimmtes steht. Damit wird man angreifbar. Und er erfordert Anstrengung, denn natürlich wäre es leichter, einfach immer so weiter zu machen wie bisher. Politik ist damit manchmal nervig: “Warum müssen wir uns jetzt damit auch noch auseinandersetzen?” Mit dem eigenen Leben hat man ja manchmal schon genug am Hut. Aber, sofern man nicht auf einer einsamen Insel lebt: das eigene Leben ist nicht denkbar ohne die Anderen. Politik ist der Weg, seinem Gang Herr zu bleiben.
THESE 4: Demokratische Politik zu betreiben bedeutet nicht “bloßes Gerede”, sondern erfordert die harte politische Arbeit mit der Sprache. Mit dem Thema “politische Arbeit” habe ich mich halt jetzt wirklich schon viel auseinandergesetzt (immerhin heißt meine Doktorarbeit zufälligerweise so). Und was ich dabei begriffen habe: politische Arbeit ist gerade deshalb so schwierig, weil es keine eindeutigen Lösungen gibt. Während politische Stammtischgespräche häufig von eindeutigen, einfachen, offensichtlichen Lösungen für gesellschaftliche Probleme ausgehen (die politischen Akteure sind nur zu dumm/korrupt/machthungrig, um sie sehen zu wollen), ist doch gerade das Fehlen eindeutiger, einfacher und offensichtlicher Lösungen die Ursache, die Bedingung der Möglichkeit von Politik. Gerade weil der Mensch die Freiheit hat, sein Leben auf ganz unterschiedliche Weise zu gestalten, muss er einen Weg finden, sich für eine dieser Möglichkeiten zu entscheiden. Dieser Weg heißt Politik (wenn es eindeutige Lösungen gäbe, hieße er: Wissenschaft). Die konkrete politische Arbeit besteht dann darin, eine bestimmten Entwurf von Gesellschaft – etwa dazu, wie mit Migranten umgegangen werden soll – zu entwickeln, auszuarbeiten und schließlich als die richtige Richtung erscheinen zu lassen, mit anderen Worten: ihr Evidenz zu verleihen, so dass die Menschen sie in das eigene Weltbild integrieren. Die eigentliche politische Arbeit liegt also weit, weit vor der politischen Entscheidung. Die zentrale Konsequenz aus diesen Überlegungen lautet: Echte demokratische Beteiligung kann nicht erst an der politischen Entscheidung (wie beim Volksentscheid), sondern muss bei der politischen Arbeit ansetzen. Ein interessanter Vorschlag dazu wird wiederum von Colin Crouch berichtet: die Idee nämlich, BürgerInnen am Prozess der politischen Arbeit zu beteiligen, so wie etwa in Geschworenengerichten Laien an der juristischen Arbeit beteiligt sind. Total spannend, noch mehr solcher Ideen!
THESE 5: Anders als zu Zeiten der ersten Durchsetzung von Demokratie sind nicht vor allem politische EntscheidungsträgerInnen die zentralen Hürden weitergehender Demokratisierung. Eine aus meiner Sicht total interessante Bestimmung des Populismus stammt von Professor … (ach Mist, jetzt fällt mir gerade sein Name auf Teufel komm raus nicht ein – wird nachgeliefert!). Der meint nämlich, populistische Bewegungen seien sich – über alle inhaltlichen Unterschiede hinweg – vor allem darin einig, dass sie eine Kluft zwischen sich, also dem Volk, und den Eliten, also “denen da oben” stilisieren. Damit machen sie sich eine sprachliche Figur zu eigen, die ihre Legitimation aus der Zeit demokratischer Anfänge bezieht: in der “Glorious Revolution”, in der “Französischen Revolution” ging es tatsächlich darum, die am undemokratischen Status quo interessierten Eliten von ihrer Machtposition zu verdrängen. Nur: die Situation heute ist, zumindest in Deutschland, völlig anders. Es sind nämlich in der Hauptsache DemokratInnen, die an den politischen Schaltstellen sitzen – der Vergleich mit den vielen problematischen politischen Figuren, die gerade weltweit schaudernde Aufmerksamkeit erregen, sollte das deutlich machen. Anstatt dessen scheinen diese Figuren (man möchte sie gar nicht mit Namen nennen, all die T’s, O’s, P’s, K’s, E’s) als Beleg dafür zu dienen, dass in der (bloß vorgestellten Einheit der) “politischen Klasse” doch alle verkorkst seien, man habe es ja schon immer gewusst. Der Bogen von Donald Trump zu, beispielsweise, Andrea Nahles oder Cem Özdemir scheint da erstaunlich mühelos zu gelingen. Aus meiner Sicht führt eine solche Vorstellung zu dem großen Denkfehler, dass man nur das politische Personal auswechseln müsste, und dann wären alle Probleme gelöst. Doch es muss sich nicht das politische Personal, es muss sich die Art und Weise verändern, wie wir alle an Politik herangehen. Ich meine, da ließe sich sogar eher an der ein oder anderen Stelle etwas von unseren demokratischen PolitikerInnen lernen: wie man inhaltliche Nichtübereinstimmung nicht als persönliche Ablehnung erlebt (anders etwa als die sensible und beleidigte Leberwurscht, der nicht-Demokrat Bismarck, wie man ihn in seinen Memoiren kennenlernt). Wie man extrem unterschiedliche Themen gleichzeitig im Blick behält und abwägend ins Verhältnis setzt (Kritik von BürgerInnenseite setzt demgegenüber ja häufig an der einzelnen Sache an). Und wie man die eigene Person in den Ring wirft, um eine politische Diskussion anzustoßen. Alles grundlegend demokratische Fähigkeiten, alle ganz schön schwierig. Wir dürfen also unseren kritischen Blick nicht nur nach “oben”, wir müssen ihn auch auf uns selbst richten.
THESE 6: Vor allem anderen ist vielleicht eine Weiterentwicklung, eine Erneuerung demokratischer Kultur notwendig. Die Vorstellung, Demokratie sei etwas, das man nur alle paar Jahre praktizieren müsse, zu den Wahlen nämlich, ist absurd. Wie soll man etwas auf einmal abrufen, wenn man es nie praktiziert hat? Bei wenig anderen Bereichen des Lebens käme man auf die Idee, dass das eine sehr sinnvolle Vorgehensweise ist. Gegenüber der Demokratie scheint es aber die herrschende Vorstellung zu sein. Eine demokratische Gesellschaft trägt Demokratie, trägt gleichberechtigte Beteiligung und Mitbestimmung in den Alltag. In einer wahren Demokratie begegnen sich die Menschen grundsätzlich mit Respekt und Offenheit (auch im Straßenverkehr…). Respekt und Offenheit sind aber nicht zu verwechseln mit beliebiger Duldsamkeit. Demokratie ist auf den Mut zum Widerspruch – auch und gerade im Alltag! – angewiesen: wenn in der privaten Diskussion Menschenfeindlichkeit zum Tragen kommt. Wenn man zum Zeugen wird, wie Menschen Schikane erfahren. Oder überhaupt, wenn jemand in den eigenen Augen einen Verstoß am menschlichen Zusammenleben begeht. In den allermeisten Fällen wird aber nicht das harsche Urteil der richtige Weg sein – wer urteilt, stellt sich über den anderen (demokratiekulturell problematisch…) und verprellt ihn damit. Besser wird es dann meistens nicht, nur trotziger. Lieber: fragen, verstehenwollen, die eigene Haltung erläutern. Und vielleicht das eigene Ego – man ist doch so gut im Urteilen, oder die eigene Überlegenheit zeigt sich gerade im flotten Urteil so schön! – ein wenig hintanstellen, das Selbst unter Kontrolle bringen. Denn nur, weil man mit der demokratischen Würde ausgestattet ist, “Volk” zu sein, so ist man es doch: nicht mehr als jeder andere auch.