Im vergangenen Semester habe ich in meinem Kurs zur Kritischen Theorie gemeinsam mit den Studierenden die „Dialektik der Aufklärung“ (DdA) von Max Horkheimer und Theodor Adorno gelesen (hier eine kurze Zusammenfassung zentraler Grundgedanken des ersten Teils, die sich aus dem Seminar heraus ergeben hat). Das war durchaus als Experiment gedacht – nicht nur für die Studierenden, sondern auch für mich: wie viel und wie weit kann ich etwas mit diesem Text anfangen? Viel, hat sich herausgestellt, sehr viel. Es gibt ja solche Texte, bei denen man beim Lesen aus dem Denken nicht mehr rauskommt. Das dauert dann zwar, weil Denken halt immer dauert. Dafür ist es wahnsinnig befriedigend. Aber intellektuelle Befriedigung ist eitel und flüchtig, weshalb ich mich jetzt an meine eigene Hausaufgabe für das Seminar setze und Gedanken (wenn auch kurz, so doch schriftlich), der mir als zentral erscheint, reflektiere: die Stellung der Macht in der “Dialektik der Aufklärung”.
„Die Dialektik der Aufklärung“, in den 1940er Jahren verfasst von Max Horkheimer und Theodor Adorno, ist die Kritik einer sich selbst im Sinne Immanuel Kants als vernunftgesteuert begreifenden Gesellschaft, die gerade deshalb in die Barbarei zurückzufallen droht, weil für sie nichts anderes Gültigkeit besitzt denn das kalte Instrument kalkulierender Vernunft. Der argumentative Ausgangspunkt dieser Kritik ist dabei ein durchaus affirmatives Verständnis von Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) ganz im Sinne Kants. Nicht die Vorstellung von Aufklärung als solche ist also das von Horkheimer und Adorno identifizierte Problem der Moderne – Aufklärung, nun aber wahre Aufklärung anstelle ihrer degressiven Form, ist auch ihr Ziel. Das Problem findet sich im spezifischen Weg, den die Moderne zu ihrer Verwirklichung eingeschlagen hat – es ist dies, so meinen Horkheimer und Adorno, zugleich der Weg Kants: der „Gebrauch der Vernunft ohne Leitung eines Anderen“ soll den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit erwirken. Was genau unter dem Gebrauch von Vernunft zu verstehen ist, expliziert Kant in seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk, der „Kritik der reinen Vernunft“: Vernunft ist jene Fähigkeit des menschlichen Geistes, in der komplexen Mannigfaltigkeit äußerer Erscheinungen durch begriffliche Systematisierung Ordnung zu stiften (Kant). Die geglückte Systematisierung der Welt der Erscheinungen bezeichnet nach Kant den Moment der Erkenntnis. Aufgeklärte Mündigkeit erreicht der Mensch folglich, indem es ihm gelingt, die Welt im eigenen erkennenden Geist zum System zu ordnen, wodurch er ihrer zugleich Herr wird (Horkheimer/Adorno 1988).
An genau diesem Vernunftbegriff und der darin implizierten Vorstellung von Erkenntnis setzen nun Horkheimer und Adorno mit ihrer Kritik an: beide erscheinen ihnen deshalb als so fundamental problematisch, weil sie die mit diesen Begriffen bezeichnete Wirklichkeit radikal engführen – auf rationale Erkenntnis durch Systembildung, unter Absehung von den dieses System ausmachenden einzelnen Elementen. Und die Frage erscheint ja durchaus berechtigt: Wenn sich die Welt aus einer komplexen Mannigfaltigkeit von Erscheinungen konstituiert, inwiefern kann dann als Erkenntnis gelten, wo genau von dieser komplexen Mannigfaltigkeit abgesehen wird? Es ist diese einseitige Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine, die Horkheimer und Adorno als Grundübel der Moderne ausmachen – sie stellen ihr die Utopie einer Erkenntnisweise entgegen, die der Welt in ihrer vielfältigen Ganzheit offen gegenübertritt, die also die dialektische Vermitteltheit von System und Einzelexistenz, von Besonderem und Allgemeinem nachzuvollziehen imstande ist. Das Problem der systematisierenden Vernunft ist hier also zugleich das Problem der Bildung des Begriffes: sie vereinseitigt ein Phänomen auf nur einen Aspekt seiner Existenz und verkennt es gerade dadurch.
Dies hat, so wird in der „Dialektik der Aufklärung“ ausgeführt, tiefgreifende gesellschaftliche Konsequenzen: wo, wie in der Moderne der Fall, die systematisierende Kapazität der Ratio als alleinige Form der Vernunft, Vernunft wiederum als alleinig gültige Urteilsinstanz begriffen wird, gerät Gesellschaft in den kargen Bannstrahl des systematisierenden Geistes. Horkheimer und Adorno rekonstruieren die Folgen für unterschiedliche gesellschaftliche Sphären: für die Kulturindustrie, deren Produkte als Variationen über ein Stereotyp analysiert werden – die systematisierende Vernunft tritt als schematisierende Vernunft in Erscheinung. Für die Wissenschaft, in der Existenzweisen in Zahlen abstrahiert und quantifiziert, dem System der Mathematik unterworfen werden – die systematisierende Vernunft erweist sich zugleich als kalkulierende Vernunft. Und im gesellschaftlichen Alltag, dem der Siegeszug der historisch gegebenen Form der Aufklärung jeden Sinn, Wert, Inhalt genommen hat, welcher der zersetzenden Kraft der Ratio widerstehen könnte. Denn das war ja das Postulat Kants: nichts sollte es geben, was der Vernunft a priori Einhalt zu gebieten imstande wäre. So bleibt am Ende nur die systematisierende Vernunft als inhaltsleerer, rein abstrakter Maßstab des Handelns bestehen, der jenes Handeln in die ihm gemäße Form bringt: das dem systematisierenden Geist entsprechende Motiv des gesellschaftlichen Alltags ist dasjenige der Naturbeherrschung, das Horkheimer und Adorno als Grundmotiv der Moderne ausmachen. Wie die Kant’sche Vernunft das Besondere dem Allgemeinen subsumiert, so macht sich der Mensch auch die Natur untertan, sie ist ihm bloßes Instrument, um seine eigenen kontingenten Ziele zu verfolgen. So wird die systematisierende Vernunft schließlich auch zur instrumentellen Vernunft. Horkheimer und Adorno betrachten die instrumentelle Vernunft als zentrale Triebkraft der Moderne.
In dieser eigentümlichen Koalition zwischen instrumenteller Vernunft und Herrschaft tritt nun endlich die Macht ins Blickfeld, mit der man nach Horkheimer und Adorno auf den Grund der Misere einer sich ihrer eigenen Erfolge beraubenden Aufklärung gelangt. Der Bindung an notwendig partikulare Werte beraubt, ist die verabsolutierte Vernunft oberstes Prinzip und blindes Werkzeug zugleich, das sich ohne Unterschied jeden beliebigen Sachverhalt unterwirft. Gerade also, indem die Moderne die instrumentelle Vernunft zum obersten Prinzip macht, sabotiert sie die eigene Mündigkeit: aus der mittelalterlichen Ständeherrschaft befreit, bringt sie die Menschen nun neuerlich in Abhängigkeit – die nunmehr unbedingte Abhängigkeit von der systematisierenden Ratio nämlich. Es ist dies eine Form der Herrschaft, die gerade dadurch umso eiserner wirkt, als sie sich als ihr Gegenteil ausgibt. Die Dialektik der Aufklärung liegt in diesem Umstand begründet: dass gerade jenes Instrument den Menschen noch tiefer in die Knechtschaft hineinführt, das eigentlich zu ihrer Überwindung gedacht war. In ihrer entarteten, weil vereinseitigten Form wird Vernunft zum Instrument der Macht. Das Ergebnis ihrer Operation ist statt Erkenntnis Unterwerfung.
Macht wird damit zum eigentlichen Problem der Gesellschaft. Horkheimer und Adorno begreifen Macht, so lässt sich die Begriffsverwendung rekonstruieren, als subsumierendes Prinzip an sich: sie ist es, die am Werke ist, wann immer alternative Aspekte des Lebens ausgeblendet, wann immer nur eine Facette der Wirklichkeit zur Entfaltung (und damit: zur Entartung) gelangt: „Die Menschen bezahlen die Vermehrung ihrer Macht mit der Entfremdung von dem, worüber sie Macht ausüben.“ (Horkheimer/Adorno 1988, S. 15) Macht bezeichnet damit jenen Willen zur Unterwerfung, der die für die Moderne typische instrumentelle Vernunft allein auf die Naturbeherrschung (statt etwa auf Fragen des guten und richtigen Lebens) ausrichtet, der die Formen künstlerischen Ausdrucks zur kulturindustriell produzierten Stereotypie verkommen lässt, der Erkenntnis nur im Zählbaren vermutet. Macht verhärtet zur Herrschaft dort, wo sie Menschen im gesellschaftlichen Status quo bannt – im Zeitalter dialektischer Aufklärung ist dies die Herrschaft der instrumentellen Vernunft. Gesellschaftlich verorten lassen sich Macht und Herrschaft dabei – die Inspiration durch Karl Marx ist hier unverkennbar – in der herrschenden Klasse, deren Reichtum an Kapital sie gelehrt hat, instrumentelle Erfolge als Zeugen der Wahrhaftigkeit ihres Tuns zu verkennen. Nur stellenweise identifizieren Horkheimer und Adorno die Herrschenden jedoch mit den Autoren der Herrschaft – ansonsten erscheint der grassierende Wille zur Subsumtion als „objektive gesellschaftliche Tendenz in diesem Weltalter“ (Horkheimer/Adorno 1988, S. 130), die es nicht lokal und partiell, auch nicht in Gestalt bestimmter VertreterInnen einer Klasse, sondern von Grund auf zu überwinden gilt. Herrschaft und Macht, viel mehr als die Herrschenden und Mächtigen, bilden den Ansatzpunkt grundsätzlicher Kritik.
Das Gegenteil wahrer Aufklärung ist die Herrschaft, das Gegenteil der Wahrheit ist die Macht. Um also Aufklärung im eigentlichen Sinne zu erreichen, ist es notwendig, „der Macht endlich zu entraten“ (Adorno/Horkheimer 1988, S. 49). Damit aber ist man am springenden Punkt angelangt: die Dialektik der Aufklärung ist nicht so sehr zu verstehen als Kritik an einer bestimmten inhaltlichen Richtung, die die Gesellschaftsentwicklung eingeschlagen hätte. Weder die Naturbeherrschung, noch das kalkulierende Denken, noch stereotype Formen innerhalb der Unterhaltungskultur an sich sind das Problem. Das Problem verorten Horkheimer und Adorno vielmehr in der Ausschließlichkeitstendenz, die zur Verabsolutierung dieser kontingenten Richtung gesellschaftlicher Entwicklung führt. Dies wird häufig missverstanden: es ist gar nicht eigentlich ein bestimmter Inhalt – im Falle der Moderne eben die instrumentelle Vernunft – der hier intellektuellen Unwillen auf sich zieht. Es ist die Subsumtion aller möglichen Ausprägungen gesellschaftlicher Existenz unter nur eine ihrer unzähligen Facetten. Die instrumentelle Vernunft wird der Gesellschaft zum Problem, lässt sie neben sich nichts anderes mehr gelten, verleiht sie ihrem Träger die Illusion, von einer Erkenntnisposition außerhalb der Gesellschaft über das Geschehen in dieser Gesellschaft urteilen zu können. Den Mechanismus aber der solcherart problematischen Subsumtion erkennen Horkheimer und Adorno eben: in der Macht.
Die in der Dialektik der Aufklärung formulierte Kritik ist also im grundsätzlichsten Sinne Machtkritik: Macht als solche wird zum Problem, jegliche Form der Machtausübung muss überwunden werden, soll tatsächliche Aufklärung erreichbar sein. Daher richtet sich das gesamte analytische Engagement darauf, den gesellschaftlichen Tendenzen der Vereinseitigung in einer kritischen, dem Status quo nicht affirmativ begegnenden Haltung nachzuspüren (Horkheimer 2011 [1937]), um auf diese Weise das Wirken der Macht zu entlarven. Schon in der Dialektik der Aufklärung wird so begründet, was später das Programm der Kritischen Theorie werden sollte, und was spätestens seit 1968 eine kaum zu unterschätzende Bedeutung für den öffentlichen Diskurs der Kritik erhalten hat: Macht und Herrschaft erscheinen als letzte Ursache gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.
Mit dieser Wendung jedoch begibt sich die Kritische Theorie in eine Paradoxie: indem Horkheimer und Adorno problematische Tendenzen gesellschaftlicher Vereinseitigung konstitutiv durch Rückbezug auf das Wirken von Macht zu erklären suchen, ist ihre Analyse selbst der Vereinseitigung unterworfen, die sich in ihrer Absolutstellung als problematisch erweist. Denn Macht, als Referenzpunkt der theoretischen Kritik in der Dialektik der Aufklärung, lässt dann wiederum neben sich kein anderes Moment der Erklärung zu – sie ist das verborgen wirkende, nicht unmittelbar sichtbare Prinzip, das sich kaum widerlegen lässt und gerade aufgrund seiner nur mittelbaren (also vermeintlich wissenschaftlich anspruchsvolleren) Zugänglichkeit das Primat fundamentaler Erklärung beansprucht. In dem Sinne, dass jegliches gesellschaftliche Phänomen letzten Endes auf seine Stellung zur Macht hin befragt wird, erwirkt die „Dialektik der Aufklärung“ also selbst Erkenntnis, indem sie subsumiert. Sie nimmt die Forschungsposition privilegierter Erklärung ein und stellt damit ihren selbst gestellten Anspruch auf Erklärung der Welt vom Standpunkt existenzieller Ganzheitlichkeit hintan. Dadurch bringt sie Erkenntnis hervor, ohne jedoch frei von Macht, also frei von Subsumtion zu sein. Die unvereinbare Entgegensetzung der beiden gesellschaftlichen Grundprinzipien Macht und Erkenntnis, wie sie zuvor von Horkheimer und Adorno in Stellung gebracht wurde, beginnt zu verschwimmen. Damit aber gerät auch die Stellung der Macht als oberster Referenzpunkt der Kritik ins Wanken.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1988): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M.: Fischer.
Horkheimer, Max (2011 [1937]): Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze. Frankfurt a.M.: Fischer.