Wirklich, ich kann es nicht mehr hören. Wenn es in Analysen vor und nach Wahlen, in denen anti-demokratische Kräfte zulegen, mal wieder heißt: Die anderen Parteien hätten „auf die falschen (häufig: zu ‚woken‘) Themen“ gesetzt. Politiker:innen hätten „die Bürgerinnen und Bürger nicht abgeholt, wo sie stehen“. Die Sachverhalte wären „nicht richtig erklärt“ worden, und überhaupt hätte man „die Sorgen der Leute nicht ausreichend ernst genommen“. Spätestens seit dieser unsäglichen Wahl am 5. November dürfte auch den Letzten klar sein: Wenn es jemanden gibt, der sich offenbar überhaupt nicht um die wirklichen Sorgen der Menschen kümmert, dann jene Menschen selbst. Das „Volk“ – dieser angebetete und gefürchtete, dieser selbstherrliche Popanz – sieht nämlich so aus: Menschen in prekären Verhältnissen wählen jemanden, der sich eigentlich nur um die Reichen schert (darunter: vor allem sich selbst); Menschen mit Migrationshintergrund wählen jemanden, der sie für wesenhaft kriminell hält (und letztlich effektiv für Menschen zweiter Klasse); und Frauen wählen jemanden, der sie mit einer Selbstverständlichkeit zu Objekten degradiert, mit der andere abends den Fernseher einschalten. Dafür sind nicht die Parteien verantwortlich. Diese Verantwortung trägt „das Volk“ schon selbst.
Mehr lesenForschungsfragmente
Was heißt es, Theorie unter den Bedingungen von Wahrheitskrisen zu betreiben? Ein Themenheft
Risikodemokratie!
Erschienen, erschienen, erschienen! (Zumindest schonmal digital…) Was für ein Gefühl: Dieses Ding, das uns irgendwie unter der Hand von einer kleinen, netten Idee zu einem ausgewachsenen ethnografischen Forschungsprojekt mutiert ist, ist endlich und wirklich fertig. Mit dem Text bin ich eigentlich wirklich mal zufrieden (ist selten genug), und dann ist es auch noch open access – kurz gesagt: juhu!
Ein paar Rezensionen gibt’s jetzt auch, zum Beispiel:
Dirk Baecker für soziopolis: “Brichzin, Laux und Bohmann legen eine beispielhafte Studie vor, die zeigt, wie eine behutsame und reflektierte Ethnografie eines Ortes oder einer Kultur mit variablen Einsätzen der soziologischen Theorie kombiniert werden kann.” (https://www.soziopolis.de/radikale-volksherrschaft.html)
Stefan Locke in der FAZ: “Das Ergebnis ist eine äußerst anschauliche und frisch formulierte Studie […] mit Schlussfolgerungen weit über Chemnitz hinaus.” (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-es-in-chemnitz-zu-rechtsradikalen-ausschreitungen-kam-18277427.html)
Hier noch kurz ein paar Worte zum Inhalt des Buchs: Den Ausgangspunkt bildet Ulrich Becks populäre Diagnose der “Risikogesellschaft” aus den 1980er Jahren. Entlang des Falls Chemnitz arbeiten wir heraus, dass sich gegenwärtig politisch wiederholt, was Beck damals vor allem für die ökonomische Entwicklung festgestellt hatte: Die Probleme, mit denen die Gegenwart zu kämpfen hat – bei Beck war das insbesondere die Umweltzerstörung, bei uns sind es vor allem anti-demokratische Bewegungen -, erklären sich nicht vor allem aus Scheitern, Gegnerschaft und Angriffen von außen, sondern gerade aus dem enormen Erfolg fortschrittlicher Tendenzen.
Mehr lesenTheorie im ‘postfaktischen Zeitalter’
Programm zu DFG-Projektworkshop
Termin: 8. / 9. Juli 2022
Ort: Universität der Bundeswehr München
Organisation: Dr. Jenni Brichzin (Universität der Bundeswehr München) | Felix Kronau (Universität der Bundeswehr München) | Jakob Zey (Universität der Bundeswehr München)
Impulspapier:
Die Gegenwart ringt mit einer „Wahrheitskrise“ (Pörksen 2019: 24ff.), diese Diagnose scheint sich etabliert zu haben. Die Trump’sche Präsidentschaft gilt vielen als Kristallisationspunkt jener Krise. Diese setzt sich während der Corona-Pandemie – mit ihrer Konjunktur von Wissenschaftsskepsis und Verschwörungstheorie (z.B. Butter 2018; vgl. auch Amlinger/Nachtwey 2021) – nahtlos fort. In dieser Situation sind die Sozialwissenschaften im öffentlichen Diskurs durchaus gefragt:[1] zur Einordnung des Geschehens, für ein paar kritisch mahnende Töne, vielleicht auch mal in Sachen vorsichtiger Prognostik. Solche publizistische Geschäftigkeit verdeckt allerdings, dass auch die Sozialwissenschaften selbst von jenem Ringen um das gesellschaftliche Verhältnis zu Wahrheit nicht unberührt bleiben. Haben wir es nicht nur mit einer gesellschaftlichen Wahrheitskrise, sondern auch mit einer sozialwissenschaftlichen Krise der Theorie zu tun?
Mehr lesen“Und leider bin ich am Ende doch wieder beim Begriff des Rhizoms gelandet”
Theorieinnovation durch Ent-Essenzialisierung und ihre Grenzen
Beitrag bei der Tagung „Begriffe. Vernachlässigte Werkzeuge der Theoriebildung? Ein Aufruf zur Debatte“am 3./4. März in München (bzw. digital)
Problemaufriss
Im vergangenen Jahr hatten wir hier an der UniBw, in unserem soziologischen Kolloquium, Besuch von einer finnischen Kollegin. Salla Sariola heißt sie, und das ist sie. In ihrer Forschung interessiert sich Sariola insbesondere für Mikroben, genauer: für das Zusammenleben von Mikroben und Menschen unter Bedingungen des Anthropozän. Relevant wird ihre Forschung insbesondere vor dem Hintergrund einer drohenden existenziellen Krise: dem post-antibiotischen Zeitalter – einer Zukunft also, in der Krankheitserreger zunehmend resistent werden und Antibiotika ihre Wirksamkeit auch gegenüber jenen Krankheitserregern verlieren, die wir heute so selbstverständlich im Griff zu haben glauben. Um vor diesem Hintergrund zu begreifen, wie ein nachhaltigeres, produktiveres Zusammenleben von Mikroben und Menschen – jenseits des Kampfes um Vernichtung – möglich sein kann, geht Sariola ihrem Gegenstand an ganz verschiedenen Orten nach: bei finnischen Sauerteig-Workshops, im Rahmen einer klinischen Durchfall-Studie in West-Afrika, oder bei der Fermentation von Reis zu Reisbier in Indien. Von letzterem, also einer ethnografischen Studie zur Herstellung von Reisbier, berichtete Sariola uns im Kolloquium. Mehr lesen
Denken in schmalen Graten
Wie sieht eigentlich Theoriebildung unter ‘postfaktischen’ Bedingungen aus? Oder genauer noch, wie sollte sie unter diesen Bedingungen aussehen, wie muss unsere Art und Weise, Theorie zu betreiben, auf gesellschaftliche Geltungskrisen reagieren? Mit dieser Frage habe ich mich in einem Vortrag bei der Tagung der DGS-Sektion Soziologische Theorie im November auseinandergesetzt. Und weil das mal wieder eine Digitaltagung war, habe ich den Vortrag halt einfach gleich mal wieder aufgenommen. Wen’s interessiert, hier entlang (mit Bitte um Verzeihung für die Werbung mit “Trump-Content” 🙂 ):
Projekthomepage – up and running!
Ein bisschen hat’s gedauert, aber jetzt gibt es sie endlich, die Homepage zum DFG Projekt Kritik anti-essenzialistischer Soziologie. Da werden wir in nächster Zeit immer noch ein bisschen weiter dran feilen – und natürlich Veranstaltungen und Publikationen ergänzen! Da steht nämlich schon einiges an. Was uns aber nach wie vor umtreibt: Wie zum Teufel illustriert man ein Theorieprojekt zum Thema Anti-Essenzialismus?! Naja, wir werden’s schon noch rausfinden. Jetzt geht’s erst mal hier lang:
How not to criticize postmodern theories.
A personal review of the book “Cynical Theories” by Helen Pluckrose & James Lindsay
Currently, social theories are under attack, both from within the academy as well as in broader public debates. At least, some strands of social theory are: theories that do not aim to discover ‘universal truths,’ but rather trace the social mechanisms and structures that guide the search for and claims to said truths. We could label those theoretical positions constructivist, poststructuralist, anti-essentialist, or, as in the book “Cynical Theories” by Helen Pluckrose and James Lindsay, postmodern. What different kinds of academic and broader intellectual critiques have in common is that they see a causal link between these kinds of social theories and the arrival of the post-truth era which we supposedly live in (e.g. McIntyre 2018; Fuller 2018; Koschorke 2018). Debates revolve around what is frequently – and often pejoratively – referred to as ‘political correctness,’ ‘alternative truths,’ ‘identity politics,’ and ‘social justice.’ To fix what is wrong with society today, these critics often suggest, we need to reject anti-essentialist thinking. Mehr lesen
Parlamentarisch denken, parlamentarisch sprechen
Zum zweiten Mal war ich jetzt zu einem sehr netten Gespräch mit Jan und Leo vom Wissenschaftspodcast “Das Neue Berlin” eingeladen. Dafür musste ich ein bisschen in meinen Erinnerungen an meine Parlamentsstudie kramen, hat aber viel Spaß gemacht – und ist auch nicht ganz unaktuell, denke ich. Wer reinhören möchte, gerne:
Chemnitzer Facetten
Es hat ja wirklich nicht so wahnsinnig viel Gutes, dass der diesjährige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie digital stattfinden musste. Aber hier und da gab es doch nette Momente, und außerdem waren Henning Laux, Ulf Bohmann und ich “gezwungen” (in dem Sinne, dass wir uns nicht den Unbilden der Technik ausliefern wollten), unseren dortigen Vortrag zu unserem Forschungsprojekt “Chemnitz – Manifestationen des Politischen” vorab als Video vorzubereiten. Jetzt könnte man ihn sich auch hier ansehen: