Überlegungen zu anti-essenzialistischen Tendenzen und ihren Grenzen
Vortrag gehalten auf dem 4. Mainzer Symposium der Sozial- und Kulturwissenschaften am 19. September 2019 – Jenseits des Menschen?
1) Die Genese des anti-essenzialistischen Paradigmas aus der Kritik an der Vorstellung unpolitischer Theorie
Theorie ist politisch. So lautet eine der konstituierenden Einsichten anti-essenzialistischen Denkens. Jede wissenschaftliche Theorie besitzt also immer zugleich ein politisches Moment: Sie ist nie unabhängig zu denken von den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen sie ihre Formulierung verdankt, und sie wirkt umgekehrt selbst auf jene Verhältnisse zurück. Der Einsicht in diese grundlegende Dialektik wissenschaftlicher Theoriebildung ist, unter anderem, die Etablierung anti-essenzialistischen Denkens geschuldet. Um jene Dialektik dreht sich mein Vortrag.
Auch für posthumanistische Ansätze, die ich dem anti-essenzialistischen Paradigma zurechne, ist die Einsicht in die politische Qualität von Theorie konstitutiv. Rosi Braidotti etwa (2014), die uns im Laufe der Argumentation noch öfter begegnen wird (und heute Abend ja auch in echt), macht zweierlei deutlich. Zum einen, dass Theorie immer – auch unter Bedingungen enormen gesellschaftlichen Wandels – auf der Höhe ihrer Zeit sein muss: “Posthumane Theorie ist […] ein generatives Werkzeug, das uns hilft, im biogenetischen Zeitalter des ‘Anthropozän’ […] die Bezugseinheit des Humanen neu zu begreifen” (S. 11). Zum anderen macht sie klar, dass Theorie zugleich ein Instrument ist, um Gesellschaft selbst zu verändern – Theorie legt die Denkgrundlagen für das Erwirken einer besseren Zukunft, in der wir “darauf hinarbeiten, uns von geistigem Provinzialismus, sektiererischen Ideologien, unredlichen Verlautbarungen und lähmender Angst zu befreien. […] Ich würde dieses Verlangen als ein radikales Streben nach Freiheit […] definieren” (S. 17).
Solches Streben nach Freiheit war für die Entfaltung anti-essenzialistischen Denkens von Beginn an zentral. Denn jene Entfaltung ereignet sich maßgeblich in einem Zeitraum, der selbst Schauplatz intensiver politischer Befreiungsbestrebungen war – vorangetrieben insbesondere von den sogenannten “Neuen Sozialen Bewegungen”, die auf eine gerechtere, gleichberechtigtere und ökologischere Gesellschaft drängen. In dieser Zeit also, nämlich 1966, erscheint einer der grundlegenden Texte anti-essenzialistischen Denkens, nämlich Michel Foucaults Buch über “Die Ordnung der Dinge”. Und in dieser Zeit entbrennt auch die “Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte”, die in den Sozialwissenschaften in den 1980er bis tief in die 1990er Jahre hinein schwelen wird. Betrachten wir diese “Essenzialismus-Konstruktivismus-Debatte” einen Moment etwas genauer. An ihr lässt sich erkennen, wie wichtig für die Formierung der neuen, anti-essenzialistischen Denkweise die Kritik an der fehlenden Einsicht in den Zusammenhang zwischen Theorie und Politik tatsächlich war.
Die Debatte entbrennt etwa Mitte der 1980er Jahre, zunächst innerhalb der Reihen feministischer Forscher*innen, die sich eigentlich alle über dasselbe Problem den Kopf zerbrechen: Warum, so wollte man erklären, hatten es weibliche Forschende im Wissenschaftssystem nach wie vor so viel schwerer als Männer? In den unterschiedlichen Antworten auf diese Frage öffnet sich nun eine theoretische Kluft: zwischen jenen Erklärungsweisen, die bald als “essenzialistisch” grundlegend problematisiert werden, und ihnen entgegen gerichteten, anti-essenzialistischen Perspektiven auf die Welt. Worin genau besteht diese Kluft?
Auf der einen Seite stehen Forscher*innen wie etwa Evelyn Fox Keller, die die Inkompatibilität patriarchaler gesellschaftlicher und insbesondere wissenschaftlicher Strukturen mit der weiblichen Natur anprangern (z.B. Keller 1985). Gesellschaft im Allgemeinen und Wissenschaft im Speziellen seien auf eine Weise organisiert, dass den angeblich genuin weiblichen Qualitäten – etwa ganzheitlichem Einfühlungsvermögen – nicht die gebührende Anerkennung widerfahre. Durch die Geringschätzung weiblicher Forschender würde die Wissenschaft daher ihr eigenes Wahrheitsideal verraten und wichtige Erkenntnispotentiale vergeben, die durch weibliches Einfühlungsvermögen gehoben werden könnten. Die andere Seite hingegen sieht genau in einer derartigen Argumentation das zentrale Problem. Indem die Gegenseite nämlich auf eine vermeintlich weibliche “Natur” rekurriert, nehme sie ihren Ausgangspunkt bei der Vorstellung eines der Frau wesenhaften “Kerns”, einer “Essenz”. Anstatt also dazu beizutragen, die Frau aus ihren gesellschaftlichen Zwängen zu befreien, würde sie auf eine – immer auch anders denkbare – differentia specifica festgeschrieben. Damit aber trage die Wissenschaft selbst dazu bei, die gesellschaftlich generierte Vorstellung vom essenziellen Unterschied zwischen den Geschlechtern zu naturalisieren – sie stabilisiere auf diese Weise performativ gerade die eigentliche Ursache der problematischen Stellung der Forscherinnen: die enorme gesellschaftliche Relevanz der Kategorie “Frau” (Butler 2014: 43).
Indem essenzialistische, auf das Wesen der Dinge abzielende Herangehensweisen derart unbewusst zur Perpetuierung gesellschaftlicher Ungleichheit (etwa zwischen den Geschlechtern) beitragen, werden sie zum Problem einer nach Befreiung strebenden Gesellschaft. “Essenzialismus” wird zur “Gefahr”, wie etwa Braidotti warnt (S. 67). Oder, wie es die Philosophin Herta Nagl-Docekal formuliert, zu einem “Vorwurf, der kaum schlimmer sein könnte” (Nagl-Docekal 1997: 20). Vor diesem Hintergrund also formiert sich Anti-Essenzialismus als “Gegen-“Paradigma, das seine eigene politische Wirkung im Blick hat. Mehr noch: Anti-Essenzialismus ist von vorneherein darauf ausgelegt, einen progressiven politischen Effekt zu erreichen – das heißt Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten entgegenwirkenden.
Die drei zentralen wissenschaftstheoretischen Stellschrauben, an denen anti-essenzialistische Zugänge zu diesem Zweck drehen, lassen sich in aller Kürze folgendermaßen charakterisieren: Auf ontologischer Ebene geht anti-essenzialistisches Denken strikt von der Unbestimmtheit der Welt aus – der Versuch einer absoluten wissenschaftlichen Bestimmung (etwa des “Wesens” der Frau oder auch des Menschen) erscheint also als inadäquat, weil Unterscheidungen selbst erst ein Produkt des gesellschaftlichen Prozesses sind. Auf methodologischer Ebene zeichnet anti-essenzialistisches Denken sich durch seine Skepsis gegenüber dem Begriff als zentralem Erkenntnismittel aus – jeder Versuch, einen Gegenstand in einem Begriff zu erfassen, wird als potentiell essenzialisierend problematisiert. Auf epistemologischer Ebene schließlich verabschiedet sich anti-essenzialistisches Denken vom Glauben an eine herausgehobene Position des Erkenntnissubjekts, da Erkenntnis unvermeidlich situiert und damit nie absolut ist. Gemeinsam ermöglichen diese wissenschaftstheoretischen Bestimmungen Umwälzungen im Bereich der Theoriebildung, wie wir sie seit Jahrzehnten beispielsweise in der poststrukturalistischen Theorie, nicht ganz so lange in neueren netzwerktheoretischen Ansätzen etwa Bruno Latours oder eben auch in der explizit posthumanistischen Theorie beobachten können. Auf diese theoretischen Umwälzungen passt in der Tat das berühmte Zitat, das Neil Badminton für seine Überlegungen zum Posthumanismus so treffend entlehnt hat: “alles Ständische und Stehende verdampft” (Badminton 2003: 10).
So kulminiert die anti-essenzialistische Theorieentwicklung letztlich in einem neuen Wissenschaftsverständnis, in dem das Streben nach theoretischer Freisetzung und politischer Befreiung zusammenfallen. Michel Foucault schreibt, dass es nicht länger darum gehen könne, “aus der Form unseres Seins das [abzuleiten], was wir unmöglich tun und wissen können; sondern [darum,] in der Kontingenz, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind, die Möglichkeit [aufzufinden], nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.” In einer als offen und unbestimmt begriffenen Welt geht es darum, Beschränkungen und Verkrustungen zu entlarven und auf diese Weise nicht verwirklichten Potentialen die Entfaltung zu ermöglichen. Man müsse so, meint Foucault, “der unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zu geben” (Foucault 1990: 49). Anti-essenzialistisches Denken soll befreiendes Denken sein.
Anti-Essenzialismus benennt also ein wissenschaftliches Paradigma, dem es statt um eindeutig absolute Bestimmung um Befreiung geht. Seine spezifische Wissenschaftlichkeit verortet es gerade nicht in der Abstinenz von Politik, sondern in der Einsicht in die unvermeidlich politische Qualität jeglicher Erkenntnis. Hieraus erwächst zum einen die Verantwortung, die politische Wirkung der eigenen Theorieentscheidungen stets mitzudenken. Zum anderen scheint dadurch die Hoffnung auf, in der Theorie die Grundlagen einer freien Gesellschaft zu legen zu können – die Utopie einer vollauf guten Theorie ohne problematische politische Wirkungen erscheint am Horizont. Braidotti beschreibt diese Utopie folgendermaßen: “Es ist der Traum eines gesellschaftlich relevanten Wissens, das auf Grundprinzipien sozialer Gerechtigkeit eingestellt ist, die Achtung menschlicher Würde und Vielfalt, die Ablehnung falscher Universalismen, die Bejahung der Differenz, das Prinzip der akademischen Freiheit, des Antirassismus, der Offenheit für andere und des Zusammenlebens” (S. 16).
2) Und doch: Verkennen auch anti-essenzialistische Theorien ihre eigene politische Wirkmächtigkeit?
So weit, so ziemlich bekannt. Nun lautet aber der Titel meines Vortrags “Jede Theorieentscheidung hat ihren Preis”. Gemeint ist damit natürlich ein politischer Preis: Die These wäre, dass auch anti-essenzialistische Theorie trotz ihres Strebens nach Befreiung potentiell problematische gesellschaftliche Wirkungen hervorbringt – Wirkungen, die sie weder im Blick hat noch theoretisch fassen kann. Inwiefern könnte das der Fall sein, inwiefern könnte also anti-essenzialistisches Denken eine gesellschaftliche Wirkung entfalten, die ihrem eigenen Ziel entgegenläuft? Um das besser verstehen zu können, möchte ich kurz etwas näher darauf eingehen, was es eigentlich heißt, wenn wir sagen: Theorie ist politisch.
Theorie also ist politisch. Für uns ist diese Einsicht heute so normal, dass sie eigentlich schon fast banal wirkt. Dabei wird nur noch selten expliziert, was eigentlich genau gemeint ist, wenn wir vom politischen Moment wissenschaftlicher Theorie sprechen. Für den Versuch einer solchen Explikation beziehe ich mich auf den von Ulf Bohmann (im Erscheinen) erst kürzlich vorgeschlagenen integrativen Politikbegriff mit “drei K”. Die “drei K” stehen dabei für die Begriffe “Kontingenz”, “Kollektivität” und “Konflikt”, die in unterschiedlichsten Varianten immer wieder mit Politik in Verbindung gebracht werden: Kontingenz verweist auf die Notwendigkeit zur politischen Bestimmung angesichts einer kontingenten Wirklichkeit; Kollektivität verweist auf die Gruppierungswirkung derartiger politischer Bestimmungen, die Anhänger*innen hinter sich scharen; Konflikt schließlich verweist auf das agonistische Verhältnis zwischen Anhänger*innen unterschiedlicher Gruppen, die sich um die richtigen politischen Bestimmungen streiten. Zusammen mit dem Wissen um die Gesellschaftsgebundenheit von Theorie lässt sich die Verschränkung von Theorie und Politik damit in vier Dimensionen nachvollziehen:
Erste Dimension: die gesellschaftliche Situiertheit von Theorie. Wissenschaft steht nicht auf einem göttlichen Standpunkt jenseits der Gesellschaft, ihre Theorien sind nicht unabhängig zu denken von der Zeit und von dem Raum, in denen sie situiert sind. Theorien werfen den Schatten ihres eigenen Überholtwerdens voraus, doch nur im Rückblick ist er erkennbar. Theorie ist also politisch in dem Sinne, dass sie mit existierenden Sichtweisen auf die Welt resoniert; nicht selten wird sie sogar die dominanten Sichtweisen auf die Welt widerspiegeln. Doch auch theoretische Gegenbewegungen sind ein Produkt ihrer Zeit, sie sind affiziert von dem, wogegen sie sich wenden. In diesem Sinne gibt es nicht nur keine apolitische, es gibt auch keine “unschuldige” Theorie.
Zweite Dimension: die Bestimmungswirkung von Theorie. Theoretische Texte zu schreiben, Vorträge zu halten, Untersuchungen durchzuführen bedeutet unausweichlich, die eigene Interpretation von Wirklichkeit (zumindest für den Moment) festzuschreiben und dadurch alternative Beobachtungen, Begriffe, Aspekte und Modelle in den unbestimmten Hintergrund zu rücken; das heißt, sie für unser Denken weniger erreichbar zu machen. Theorie ist also politisch in dem Sinne, dass sie bestimmte Sichtweisen auf die Welt festschreibt (und sei es eine Sicht auf die Welt als unbestimmte). Was aber unserem Denken als eindeutig bestimmt und kaum noch anders denkbar erscheint, erscheint ihm tendenziell auch als richtige Bestimmung – hier zeigt sich die normative Kraft einer derartigen Vereinseitigung.
Dritte Dimension: die Gruppierungswirkung von Theorie. Wenn uns eine wissenschaftliche Interpretation der Wirklichkeit überzeugt, ihre argumentative Kohärenz uns beeindruckt, ihre hellsichtige Klarheit die Welt in neuem Licht erscheinen lässt (oder aber wenn sie schlicht mit unserer eigenen Sicht auf die Welt zusammenfällt), so sind wir bereit, ihr zu folgen. Genau dies macht aber ihre politische Wirkung aus, denn Theorie ist politisch in dem Sinne, dass sie Gruppen hinter sich zu versammeln in der Lage ist (und seien es zunächst einmal “nur” Gruppen von Wissenschaftler*innen).
Und schließlich die vierte Dimension: die agonistische Wirkung von Theorie. Gerade weil Theorie notwendig mit Bestimmung einhergeht, und gerade weil die gelungene Bestimmung in der Lage ist, Gruppen hinter sich zu versammeln, wirkt Theorie zugleich agonistisch: Neubestimmungen und damit Widerstand erstehen, wo ganze Gruppen von relevanten Deutungsweisen absehen. Theorie ist also auch politisch in dem Sinne, dass zum einen ihre Entwicklung immer in Abgrenzung von Anderem erfolgt – wie das ja auch beim Anti-Essenzialismus der Fall ist. Zum anderen in dem Sinne, dass wir immer schon wissen, dass erfolgreiche (also gruppierungswirksame) Theorie Widerstand hervorrufen wird.
Situiertheit, Bestimmungswirkung, Gruppierungswirkung und agonistische Wirkung – diese vier Dimensionen des Politischen ermöglichen die nähere Bestimmung der politischen Qualität von Theorie. So speist sich etwa die anti-essenzialistische Kritik an der Politikblindheit essenzialistischer Ansätze vor allem aus den ersten beiden Dimensionen: Zum einen sind essenzialistische Ansätze sich ihrer eigenen gesellschaftlichen Situiertheit nicht im Klaren, sie sind blind für das Ausmaß, in dem Gesellschaft ihnen ihre eigenen Perspektive vorgibt. Zum anderen sind sie sich ihrer eigenen Bestimmungswirkung nicht bewusst, durch die sie das, was gesellschaftlich als Wahrheit gilt, performativ inkraft setzen und verfestigen.
Kritik, die sich umgekehrt gegen das anti-essenzialistische Paradigma wendet, gibt es schon so lange wie dieses Paradigma selbst – immer wieder läuft sie auf das hinaus, was Braidotti als “denkfaulen Vorwurf des moralischen und kognitiven Relativismus” (S. 155) bezeichnet. Seit kurzem jedoch beginnt sich eine neue Richtung der Kritik am Anti-Essenzialismus abzuzeichnen. Das Spannende an dieser neuen Kritik ist aus meiner Sicht, dass sie anti-essenzialistischen Denker*innen genau das entgegenhält, was diese zuvor an essenzialistischen Ansätzen kritisiert hatten: dass sie die eigene politische Wirkung nicht im Blick hat. Der gesellschaftliche Kontext solcher Kritik sind nun allerdings nicht erneut politische Befreiungsbestrebungen. Umgekehrt eher: Den Kontext bildet die drohende politische Regression, die sich im globalen Wiedererstarken ultranationalistischer, rechtsextremer, ja, faschistischer Tendenzen ankündigt. Statt um Befreiung geht es um eine Verteidigung der mühsam errungenen gesellschaftlichen Freiheiten – die Auseinandersetzung mit anti-essenzialistischem Denken spielt dabei eine Rolle.
So sieht das etwa Albrecht Koschorke, der seine pointierte (speziell an poststrukturalistische Tendenzen gerichtete) Kritik vor gut einem Jahr in der Neuen Zürcher Zeitung formuliert hat. Koschorke argumentiert dabei, es lasse sich ein Zusammenhang erkennen zwischen dem “postfaktischen Zeitalter”, das den Aufstieg des Rechten überhaupt erst ermöglicht hat, und poststrukturalistischem (bzw. anti-essenzialistischem) Denken. Im Speziellen zeigt er die Parallelenauf, die zwischen dem poststrukturalistischen Wissenschaftsdiskurs und dem politischen Diskurs der Neuen Rechten bestehen: Hier wie dort werden absolute Wahrheitsansprüche infrage gestellt; hier wie dort werden hegemoniale Weltsichten problematisiert; und hier wie dort werden diesen Weltsichten alternative Deutungen entgegengesetzt. Die implizite These Koschorkes lautet: Die Neue Rechte bedient sich mit Erfolg genau jener Mittel, die anti-essenzialistisches Denken ursprünglich gegen konservative, den Status quo verabsolutierende Ansätze in Anschlag gebracht hatte. Der anti-essenzialistische Zugang zur Welt gerät damit in Bedrängnis: “Was ist, wenn man es nicht mehr mit der Eigenrealität bedrohter Regenwaldvölker, sondern von gefühlten Mehrheiten und deren zunehmender Militanz zu tun hat? Angesichts einer offen bildungs- und wissenschaftsfeindlichen Regierungsagenda in den USA und anderen von Rechtspopulisten regierten Ländern rückt die Maxime, verfestigte Wahrheiten zu destabilisieren und unterschiedliche Wissenskulturen ihr Recht zu belassen, in ein deutlich fahleres Licht.” Die Geltungskrise des gegenwärtigen ‚postfaktischen Zeitalters‘ wäre entsprechend nicht zu denken ohne geisteswissenschaftlich kultivierte Geltungsskepsis. Und anti-essenzialistisches Denken hätte nicht so sehr oder nicht allein die Denkgrundlagen für eine freie Gesellschaft gelegt – es hätte zugleich der politischen Regression den Weg bereitet.
Die Kritik wiederholt sich also: Wieder haben wir es mit Theorie zu tun, die ihre eigene politische Wirkung nicht im Blick hat. Doch verwies die anti-essenzialistische Kritik am Essenzialismus noch auf die ersten beiden politischen Dimensionen von Theorie – also Bestimmungswirkung und gesellschaftliche Situiertheit –, spielt für die neue Kritik am Anti-Essenzialismus die vierte Dimension, die agonistische Wirkung von Theorie, die zentrale Rolle. Denn was man anti-essenzialistischem Denken unter Fortschreibung der Koschorke’schen Kritik vorwerfen kann, ist eben das fehlende Bewusstsein für die agonistische Wirkung der eigenen theoretischen Bestimmungen. Anti-essenzialistisches Denken blendet aus, dass die eigenen Theorieentscheidungen Widerstand hervorrufen und Widerstand ermöglichen. Es blendet aus, dass sich Kräfte die eigenen Bestimmungen zunutze machen können, die sie für dem Anti-Essenzialismus in keiner Weise verwandte Ziele einsetzen. Es verschließt die Augen vor der paradox anmutenden Einsicht, dass gerade das kategorische Voranschreiten in eine bestimmte Richtung – z.B. der Versuch der progressiven Befreiung durch immer weitergehende theoretische Ent-Essenzialisierung – gerade dorthin führen kann, wo man überhaupt nicht hinwollte – in Verhältnisse zum Beispiel, in denen Freiheit keinen Platz mehr hat. Dass sie diese dialektische Tendenz des Politischen und damit auch der wissenschaftlichen Theorie nicht mitgesehen hat, kann man anti-essenzialistischer Theorie vorwerfen. Überspitzt formuliert: Sie hat die Welt als politische, als eine Welt des agonistischen Zusammenspiels von Bestimmung und Gegenbestimmung, und damit als widersprüchliche letztendlich verkannt.
3) Die Ambivalenz anti-essenzialistischer Theorie am Beispiel der Überlegungen zum Posthumanismus von Rosi Braidotti
Auch anti-essenzialistisches Denken also hat die eigene politische Wirkung nicht vollauf im Blick: Es übersieht die Widersprüche, die vom agonistischen Moment wissenschaftlicher Theorie herrühren – von der Tendenz also, dass jede Bestimmung immer auch Gegenbestimmungen hervorruft. Ich möchte nun versuchen kurz zu zeigen, inwiefern eine derartige Beschränkung sich in anti-essenzialistischer Theorie konkret manifestieren kann. Dazu ziehe ich Braidottis Überlegungen zum Posthumanismus heran – mitnichten, weil es sich dabei um ein besonders problematisches Beispiel anti-essenzialistischer Theoriebildung handeln würde. Sondern im Gegenteil, weil diese Überlegungen auf geradezu idealtypische Weise anti-essenzialistisches Denken in konkrete theoretische Bestimmungen überführen.
Nimmt man sich nun also Braidottis Buch zum Posthumanismus vor, so mag der Vorwurf der theoretischen Widerspruchsblindheit zunächst überraschen – immerhin geht sie ja, wie anti-essenzialistische Zugänge generell, ganz explizit von einer Affirmation von Differenz und Widersprüchlichkeit aus. So schreibt sie etwa: “Die posthumane Ära ist voll von Widersprüchen” (S. 56). Es brauche daher theoretische Anstrengungen “zur Entwicklung kritischer Begriffe, die der Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Zeit entsprechen” (ebd.). Anhand von drei zentralen Theoriestellen möchte ich jedoch plausibel machen, dass die prinzipielle Affirmation des Widerspruchs einer theoretischen Kapazität zum Denken in Widersprüchen nicht entspricht.
Braidotti stellt sich auf die Basis einer, wie sie sagt, “monistischen” Philosophie, welche das Denken in binären Gegensätzen überwinden soll. An dessen Stelle platziert sie die Vorstellung einer durch komplexe (statt binäre) Alterierungsprozesse im ständigen Wandel verknüpften Welt: “Ein nomadischer, zoézentrierter Ansatz verbindet menschliches mit nichtmenschlichem Leben zu einer umfassenden Ökophilosophie des Werdens” (S. 108). Ein Bruch mit einer derart monistischen, nicht von kategorischen Unterscheidungen ausgehenden Betrachtung ist allerdings immer dort zu erkennen, wo es um die Beschreibung des Werdens der eigenen Theorie geht. Denn diese formiert sich offensichtlich in drastischer und, ja, binärer Abgrenzung von anderen theoretischen Zugängen zur Wirklichkeit: Zu allererst natürlich in der generellen Abgrenzung von humanistischen bzw. allgemein essenzialistischen Ansätzen; darüber hinaus jedoch beispielsweise auch vom kulturtheoretischen Primat der Sprache bzw. des Nicht-Materiellen, von der defizitorientierten Betrachtung früherer Subjektvorstellungen, vom kantianischen Universalismus, den Braidotti als autoritären Universalismus begreift, und so weiter. Fast das gesamte Schlusskapitel liest sich ein wenig wie eine Abrechnung mit dem falschen theoretischen Anderen. An dieser Stelle offenbart sich eine Paradoxie: Die monistische Theorie wider die binäre Abgrenzung formiert sich in vehementer binärer Abgrenzung von anderen Theorien. Eine ganz ähnliche Paradoxie hatte Theodor Adorno schon 1970 bei Edmund Husserl identifiziert, der auf der einen Seite vom “unterschiedslosen Fließen von Leben” (Adorno 1970, S. 18) ausgehe, auf der anderen Seite aber die eigene und die von ihm kritisierte Erkenntnisweise “so dualistisch gegeneinander, wie nur je die von ihm befochtenen Lehren des Descartes und Kant es waren” (ebd.).
In der monistischen Betrachtungsweise Braidottis kündigen sich die Begriffe der Differierung und Hybridisierung als Zentralkategorien an. Braidotti schreibt: “Das führt zu einem radikalen Posthumanismus als einer Position, die Hybridität, Nomadismus, Diasporasituationen und Kreolisierungsprozesse in Möglichkeiten verwandelt, Subjektivitätsansprüche, Verbundenheiten und die Gemeinschaft zwischen Subjekten menschlicher und nichtmenschlicher Art wieder auf den Boden der materiellen Realität zu beziehen” (55). Bereits in der kategorischen Abgrenzung von bestimmten anderen Theoriepositionen wird jedoch deutlich, dass nur die richtige Art von Differenz in den Prozess dieses gemeinsamen Werdens theoretisch Eingang findet und finden soll. Und auch auf Gegenstandsebene erfährt man schnell von der Existenz des kategorial bestimmten falschen Anderen, das aus dem Prozess gleichberechtigten Werdens ausgeschlossen werden muss: das patriarchale Andere, das kapitalistische Andere, das xenophobe Andere. Täte man dies nicht, so müsste man letztlich begründen, warum nicht auch die von Koschorke beschriebene problematische Verflechtung anti-essenzialistischen und postfaktischen Denkens als eine Form der Hybridisierung betrachtet werden kann.
Trotz monistischer Philosophie und einem Grundverständnis der universalen Verbundenheit in Alterität gibt es also auch bei Braidotti die Vorstellung des ausgeschlossenen, unverbundenen, des vollständig (da problematischen) Anderen. Diese Vorstellung kulminiert im Begriff des Kapitalismus. Mit Kapitalismus erhält der nach wie vor in Unfreiheit verharrende gesellschaftliche Status quo einen Namen, zu dessen Überwindung sich der als “kritisch” verstandene Zugang Braidottis aufschwingt. Doch immer dort, wo zum Beispiel die Bedeutung von theoretischer Kreativität und Innovativität für das Verständnis gegenwärtiger Gesellschaft hervorgehoben wird (z.B. S. 59), tritt die eigene Situiertheit im Zeitalter des (kreativen und innovativen) digitalen Kapitalismus unverkennbar in Erscheinung – als Denk- und Ermöglichungsbedingung lässt sich posthumanistische Theorie davon nicht trennen. Vor allem aber schimmert immer dort, wo von Kapitalismus die Rede ist, die Vorstellung einer Verbundenheit in einem gesamtgesellschaftlichen Problemzusammenhang durch. So meint Braidotti etwa, es sei “wichtig, die Zusammenhänge zwischen dem Treibhauseffekt, der Stellung der Frauen, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und dem grassierenden Konsumdenken zu erkennen” (S. 97). Der Hegel’sche Totalitätsbegriff klingt hier an, der Wirklichkeit als von einem integrierenden Prinzip – hier dem kapitalistischen Prinzip – durchdrungen sieht. Mit anti-essenzialistischem Denken ist er nur schwer vereinbar.
Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass sich in der von Braidotti vorgeschlagenen Theorieposition Widersprüche offenbaren, die von dieser Position selbst nicht erfasst werden können. Sie betont Komplexität und Widersprüchlichkeit der Welt, die so in der Theorie nicht vorkommen. Denn um Widersprüche und paradoxe Verhältnisse theoretisch greifen zu können, müsste man sich eben doch auf die empirische Binarität von Bestimmung und Gegenbestimmung einlassen – ohne sie ist Widerspruch schließlich nicht denkbar. Erforderlich wäre damit einen Begriff von Dialektik, den Braidotti zwar verwirft, zugleich jedoch implizit dem eigenen Denken zugrunde liegt wenn sie schreibt, dass “die scheinbar endlose Auseinandersetzung zwischen Humanismus und Antihumanismus in eine Sackgasse [führt]. […] Zunehmend wünschenswert und notwendig wird eine andere Option: Posthumanismus als eine Bewegung, die über diese fatalen Gegensätze hinausgeht” (S. 41f.). Mit dieser Beobachtung komme ich zum Schluss.
4) Fazit
Mein Vortrag lässt sich als Plädoyer für den Versuch verstehen, das anti-essenzialistische Bewusstsein für den Zusammenhang von Politik und Theorie um das Bewusstsein der agonistischen Wirkung der (erfolgreichen) theoretischen Bestimmung zu erweitern. Erst, wenn uns auch die agonistische Dimension der politischen Wirkung von Theorie präsent ist, lässt sich der volle Umfang der Aussage begreifen: Theorie ist politisch. Klar wird dann, dass jede theoretische Festlegung, und sei es eine Festlegung mit den besten politischen Absichten (etwa derjenigen der Befreiung), unweigerlich Gegenbestimmungen hervorruft – sie besitzt also Nebenfolgen, die sie nicht intendiert hatte. Jede Theorie ist politisch heißt damit zugleich, dass jede Theorie ihren Preis hat. Einer möglichen, nicht intendierten politischen Nebenfolge anti-essenzialistischen Denkens geht Koschorke nach, indem er sich mit den auffälligen Ähnlichkeiten zwischen anti-essenzialistischem und postfaktischem Denken auseinandersetzt. Ich hielte es für sinnvoll, solche Kritik nicht sofort zu verwerfen, sondern ihr – und damit der Widersprüchlichkeit der eigenen theoretischen Bestimmungen – genauestens nachzugehen.
Wie Braidotti halte ich kritische Theorie für eine wichtige theoretische Ressource, um genau das zu tun. Anders als sie würde ich jedoch zu diesem Zweck weit eher die Fixierung auf den Kapitalismus als die geschmähte Theoriefigur der Dialektik aus der kritischen Auseinandersetzung herauskürzen. Denn sofern man der Beschäftigung mit Dialektik keine metaphysischen, sondern empirisch aufgespürte Binaritäten (als nicht-essenzialistisch verstandene Differenzen) zugrunde legt, ist sie ein mächtiges Instrument, um auf gesellschaftlich wirksame Widersprüche scharf zu stellen. Mit so etwas wie einer kritisch-dialektischen Mikrologie der Gesellschaft (vgl. Brichzin 2019), wie sie in Adornos Hauptwerk „Negative Dialektik“ anklingt, könnte es gelingen, die gesellschaftliche Herausbildung, Entfaltung und auch Überwindung gesellschaftlicher Widersprüche nachzuvollziehen. Dazu gehört auch der gegenwärtige Widerspruch zwischen dem Abschied vom Menschen und dem gleichzeitigen Ruf nach mehr Menschlichkeit.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Badminton, Neil (2003): Theorizing Posthumanism. Cultural Critique 53, S. 10-27.
Bohmann, Ulf (2019): Eine Soziologie des Politischen. Wie man sich mithilfe eines Dreiklangs dem chronisch Unbestimmbaren nähern könnte. Soziologie 48 (4).
Braidotti, Rosi (2014): Posthumanismus. Leben jenseits des Menschen. Frankfurt/New York: Campus.
Brichzin, Jenni (2019): Wider das Diktat der Eindeutigkeit. Ein Denkanstoß im Geist der Kritischen Theorie. Soziologie 48 (4).
Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung? In: Erdmann, Eva (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a.M.: Campus, S. 35-54.
Nagl-Docekal, Herta (1997): Schwerpunkt: Untiefen der Essentialismuskritik. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1): 20-22.
Bildquelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Demonstration#/media/Datei:Bundesarchiv_B_145_Bild-F033386-0009,_Bonn,_Demonstration_von_Bauern.jpg (Hinzufügung: blauer Schriftzug “Theorie ist politisch”)
Pingback: Jenni Brichzin
Pingback: Kritik anti-essenzialistischer Soziologie – Jenni Brichzin